Ausgerechnet der Talladega Superspeedway läutet die zweite Hälfte des Chase ein, was die Fahrerwertung am Sonntag mit großer Wahrscheinlichkeit einmal kräftig durch den Fleischwolf drehen dürfte. Dass auf dieser Wildcard-Strecke wirklich alles passieren kann, bewies Front Row Motorsports im Frühjahr mit einem Doppelsieg.
Das vierte und letzte Restrictor-Plate-Rennen des Jahres ist eines, auf das ich mich immer ganz besonders freue, nicht zuletzt weil es im Normalfall für viel Bewegung im Chase sorgt. Dessen aktuelle Ausgabe hat durch die konstanten Ergebnisse der beiden großen Favoriten Matt Kenseth und Jimmie Johnson doch etwas an Dynamik verloren, allerdings könnte sich das am Wochenende ändern. Der Talladega Superspeedway bietet mit seinem wahnsinnigen Banking in Höhe von 33 Grad bei einer Streckenlänge von 2,66 Meilen nämlich die unangefochtene Hochgeschwindigkeitsorgie der Saison auf, da er noch einmal etwas monströser als die traditionsreiche Anlage in Daytona daherkommt. Die erfahrenen Leser wissen natürlich, was diese Dimensionen bedeuten, doch für unsere NASCAR-Neulinge möchte ich dies kurz ausführen:
Weil diese Konfiguration unreguliert für Speeds jenseits der 200-mph-Schallmauer sorgen würde, greift die NASCAR aus Sicherheitsgründen ein und fährt die normale Motorleistung von knapp 900 PS auf etwa die Hälfte herunter. Dieser Leistungsunterschied sorgt auf den beiden größten Strecken im Kalender für ein komplett unterschiedliches Rennfahren im Gegensatz zu den Intermediate-Ovalen, welches seinen Namen quasi aus der Bezeichnung der Ursache bezieht. Die PS-Reduktion erfolgt durch die Begrenzung der Luftmenge, die für einen Zündvorgang in den Brennkammern des Motors zur Verfügung steht. Dazu wurde früher ein spezielles Blech („restrictor plate“) mit vier gleichgroßen Bohrungen bzw. Durchlässen zwischen Vergaser und Motor geklemmt. Im Zeitalter der elektronischen Einspritzung fiel der Vergaser natürlich weg und wurde durch ein EFI-Modul ersetzt.
Der Name dieser Bleche benennt wie gesagt den Stil des Rennfahrens – das sogenannte Restrictor-Plate-Racing: Mit halber Leistung ist aufgrund des enormen Luftwiderstands – böse Zungen behaupten, ein NASCAR-Fahrzeug verfüge über den Cw-Wert einer Schrankwand – in Alleinfahrt natürlich bei ca. 190 mph Schluss. Es kann also die gesamte Runde „pedal to the metal“, sprich Vollgas gefahren werden. Nun kommt der Windschatten ins Spiel, den die Autos ja zweifelsohne im Überfluss anbieten. Der Verfolger schließt von hinten auf und überholt nun nicht etwa, sondern schiebt seinen Vordermann physisch an. Durch dieses Bump-Drafting werden beide Autos um bis zu 10 mph schneller, da sie sich die Luftverdrängung aufteilen und ihre Motorleistung addieren.
In großen Paketen aus mehreren Fahrzeugen erhöht sich dann natürlich die Gefahr eines Unfalls nicht unerheblich und kann aufgrund der niedrigen Abstände auch mal in eine Massenkarambolage ausarten – der allseits gefürchteten „big one“. Beim Restrictor-Plate-Racing muss der Fahrer immer hellwach sein und benötigt außer seinem Spotter auch noch einen siebten Sinn fürs Fahren im Pulk. Einige Fahrer wie z.B. Tony Stewart, Kevin Harvick, Michael Waltrip oder auch Dale Earnhardt Jr. beherrschen diese Disziplin im Schlaf und dem alten Earnhardt sagte man sogar nach, er habe den Windschatten förmlichen sehen können.
Wenn bis zu 43 Autos bei bis zu 200 mph parallel in Zweier- oder Dreierreihen auf der Länge eines Fußballfeldes unterwegs sind, ist das für mich das absolute Highlight der NASCAR-Saison. Die wahnsinnig enge Konkurrenzsituation sorgt zudem auch dafür, dass in unglaublich knappen Zieleinläufen auch mal die sonst weniger erfolgreichen Teams eine Chance auf die Victory-Lane besitzen. Front Row Motorsports zeigte dies im Frühjahr sehr beeindruckend mit einem Doppelsieg von David Ragan vor David Gilliland. Die Davids haben den Goliaths der NASCAR quasi ein Schnippchen geschlagen, weil der Windschatten alle Investments gleich behandelt. Unverdient ist das aber keinesfalls, denn zuvor muss jeder Fahrer zunächst mal die 500 Meilen überdauern und sich aus jeglichem Ärger heraushalten: „To finish first, you must first finish.“ – Rick Mears
Big-Ones und kleine Teams als Punktediebe werden am Wochenende auch den Chase-Piloten eine Menge Schwierigkeiten bereiten. Seit zwei Wochen ist die Meisterschaftstabelle nahezu unverändert, aber das sollte sich jetzt ändern, denn frei nach dem im letzten Absatz Zitierten müssen halt auch Matt Kenseth und Jimmie Johnson (-4) erst einmal das Rennen beenden. Am Ende steht dann womöglich „The Closer“ Kevin Harvick (-29) ganz oben und reißt die Führung in der Punktewertung an sich. Eine solche Aufholjagd könnte ebenfalls Jeff Gordon (-36) und Kyle Busch (-37) gelingen, die auch auf den Superspeedways nie zu unterschätzen sind. Dahinter brauchen alle anderen Fahrer ab Greg Biffle (-58) schon mindestens zwei Wunder, um noch an die Spitze vorzustoßen. Aber wer weiß, immerhin folgt nach Talladega direkt die nächste Blechschaden-Orgie auf dem Shorttrack in Martinsville!
Wer mich jetzt um eine Einschätzung der Kräfteverhältnisse am Wochenende bittet, den verweise ich direkt wieder auf den Doppelsieg von Front Row Motorsports aus dem Frühjahr. In Talladega oder Daytona einen Siegertipp abzugeben, gleicht der Lotterie 1 aus 43 – aber immerhin mit klar besseren Gewinnchancen als im deutschen Lotto-System. Deshalb gebe ich nur einen kleinen Dark-Horse-Tipp ab: Danica Patrick sollte man auf den Restrictor-Plate-Ovalen ganz genau im Auge behalten und auch Michael Waltrip traue ich am Wochenende eine Fahrt in die Victory-Lane zu.
Kommen wir noch kurz zu den wichtigsten News der Woche:
– Die NASCAR-Offiziellen haben einen neuen Rennkalender für 2014 ersonnen, welcher sich nur in wenigen Details von der diesjährigen Version unterscheidet. So wird Texas im Frühjahr kein Nachtrennen mehr sein, dafür fährt der Sprint Cup in Kansas im Mai unter Flutlicht, wobei diese Strecke ihren Platz mit Darlington getauscht hat. Die einzigen beiden einwöchigen Pausen zwischen den 36 Saisonrennen plus zwei Einladungsrennen liegen wie immer an Ostern und vor Indianapolis im Sommer. 2015 möchte die NASCAR dann passend zu den neuen TV-Verträgen ein paar Änderungen mehr einflechten, so ist unter anderem ein Rundkursrennen im Chase nicht unwahrscheinlich.
– FOX Sports hat offensichtlich spitzbekommen, dass Martin Truex Jr. im nächsten Jahr die #78 bei Furniture Row Racing pilotieren soll. Eine offizielle Verlautbarung wird für den nächsten Dienstag erwartet. Sollte sich dies bewahrheiten, wäre das eine schöne Sache für Truex, der in den ganzen Chase-Wirren den kürzesten Strohhalm (Playoff-Ausschluss, Verlust des Hauptsponsors) gezogen hat, ohne persönlich für irgendetwas verantwortlich gewesen zu sein.
– Als Ersatzfahrer für den verletzten Brian Vickers wurde unterdessen Elliott Sadler bei Michael Waltrip Racing verpflichtet, nachdem der Chef in Talladega zunächst planmäßig selbst das Steuer in die Hände nimmt. Sadler fährt dieses Jahr in der Nationwide Series eine volle Saison bei Joe Gibbs Racing – übrigens als Teamkollege von Vickers. Wer ihn in der zweiten Liga ersetzen wird, ist derzeit noch unklar.
Zum Abschluss folgen an dieser Stelle wie gewohnt noch die Links (PDF) zu den aktuellen Ständen in der Fahrer- und Owner-Wertung sowie die Entry-List und einen Zeitplan für das TV-Programm am Wochenende.
Freitag, 18.10.
16:30 Uhr, Truck Series Final Practice, FOX Sports 1
20:30 Uhr, Sprint Cup Series Practice, FOX Sports 1
22:00 Uhr, Sprint Cup Series Final Practice, FOX Sports 1
23:00 Uhr, Truck Series Qualifying, FOX Sports 2
Samstag, 19.10.
18:00 Uhr, Sprint Cup Series Qualifying, FOX Sports 2
22:00 Uhr, Truck Series Rennen (Fred’s 250), FOX Sports 1 ab 21:30 Uhr
Sonntag, 20.10.
20:00 Uhr, Sprint Cup Series Rennen (Camping World RV Sales 500), ESPN / Motorvision TV ab 19 Uhr