Es ist das erste Saisonfinale einer FIA-Weltmeisterschaft in diesem Jahr: Die „Winterserie“ Formula E fährt am Wochenende mit zwei Rennen im Londoner Battersea Park ihren zweiten Meister aus. Sebastien Buemi oder Lucas di Grassi – einer dieser beiden wird (aller Voraussicht nach) Nachfolger von Nelson Piquet jr. werden, der hier im Vorjahr in dramatischer Weise zum ersten Formula E-Champion gekürt wurde. Gleichzeitig ist es ein Abschied, denn es wird vorerst das letzte Rennen in London und sicher das letzte im Battersea Park sein.
Im kommenden Jahr wird der London ePrix nicht mehr auf den Fahrwegen der 83 Hektar großen Grünanlage gefahren werden; das haben die Anwohner mit ihrem Protest erreicht: Auf- und Abbauarbeiten beeinträchtigten die Park-Nutzung zu lange und beschädigten die Bäume. Mit ihren berechtigten Sorgen wollten sie vor Gericht ziehen, einen Tag vor der Verhandlung gab es einen Deal. Für die Zukunft müssen Alejandro Aga und sein Organisationsteam einen anderen Austragungsort für den London ePrix finden, denn Großbritannien möchte man als ein Kernland des Motorsports – und insbesondere auch der Motorsport-Industrie – unbedingt im Kalender behalten. Agag hat noch Hoffnung, schon für nächstes Jahr einen passenden Ort zu finden, träumt aber gleichzeitig von einem Rennen auf der Mall vor dem Buckingham Palace.
Zum Kalender später mehr, zunächst einmal wollen wir den Blick auf das anstehende Rennwochenende richten. Wie im Vorjahr werden zum Saisonabschluss zwei Rennen gefahren: eines am Samstag, eines am Sonntag, beide mit gleicher Länge und gleicher Punktevergabe und jeweils mit separater Quali am Morgen des Renntages. Zu erfahren sind somit noch maximal 60 Punkte: je 25 für den Rennsieg, 3 pro Pole Position und 2 pro schnellster Rennrunde. Rechnerisch kann damit auch der Drittplatzierte Sam Bird noch Meister werden (82 Zähler), doch realistisch betrachtet ist es ein Duell zwischen Lucas di Grassi mit 141 Punkten und Sebastien Buemi mit nur einem einzigen Punkt Rückstand.
Brite Sam Bird wird bei seinem Heimrennen jedoch sicherlich eine Rolle spielen und könnte den beiden Kampfhähnen somit wertvolle Punkte streitig machen: In seinem britisch-französischen DS Virgin-Boliden, der die Reifen schnell auf Temperatur bekommt, dürfte er gute Chancen auf die vierte und vielleicht sogar die fünfte Pole der Saison haben, insbesondere wenn es am Wochenende in London kühl sein sollte. Vorhergesagt sind Temperaturen von 18 bis 19 Grad Celcius bei eher bewölktem Himmel, hinzu kommt das dichte Blätterdach über dieser recht speziellen Rennstrecke.
Am Sonntag ist auch Regen im Bereich des Möglichen; zu hoffen ist, dass nicht – wie im Vorjahr beim bisher einzigen Regen-Event der Formula E-Geschichte – die Qualifikation davon betroffen ist. Denn nach wie vor ist es bei dem Quali-System der Formula E, die ihre Piloten in Gruppen nacheinander auf die Strecke schickt, durchaus möglich, dass die Piloten einiger Gruppen im Trockenen fahren können, während andere Gruppen bei Regen deutlich gehandicapt sind und keine Chance auf Top-Zeiten haben. Auch die Fairness-erhöhende Möglichkeit, zumindest den Besten jeder Gruppe in die Super-Pole-Qualifikationsrunde zu schicken, hat man versäumt und lässt diese stattdessen von den fünf Gesamtschnellsten aus der Gruppenphase ausfahren.
Sebastien Buemi muss in London angreifen, denn er ist im Rückstand. Immerhin konnte er beim Berlin ePrix im Mai seinen Rückstand mit dem dritten Saisonsieg verkürzen, zumal sowohl Lucas di Grassi als auch dessen Teamkollege Daniel Abt dort nicht gewillt waren, die Podiumsplätze dahinter zu tauschen. Nach der Dominanz von Buemis e.dams-Renault zu Saisonbeginn ist es kaum vorstellbar, dass der Schweizer nicht mehr Siege eingefahren hat, doch schwache Vorstellungen in der Qualifikation, bedingt auch durch ein ihm nicht passendes Bremsverhalten und dadurch hervorgerufene Fehler, hielten ihn in der Saisonmitte zurück. Erst in Berlin konnten er und sein Team diese Probleme überwinden und Startplatz 2 erreichen. Trotz schwacher Quali-Leistungen erreichte Buemi in jedem Rennen das Podium, ausgenommen Putrajaya, wo in Führung liegend die Technik überhitzte, und Long Beach, wo Buemi selbst überhitzte und Robin Frijns von der Strecke räumte.
Auch Lucas di Grassi hat drei Saisonsiege auf dem Konto – einen vierten verlor er durch die Disqualifikation in Mexico, als sein Abt Schaeffler Audi Sport-Team (wie im Vorjahr in Berlin) eines der beiden im Rennen verwendeten Autos nicht regelkonform an den Start brachte. In jedem anderen Lauf dieser Saison erreichte er das Podium. Eine Pole Position kann er nicht verbuchen, doch sein Dienstfahrzeug war auf fast jeder Strecke gut genug für die Top 5 und damit für den Super Pole-Shootout. Di Grassi hat sich besorgt gezeigt, dass der FanBoost die Meisterschaftsentscheidung beeinflussen könnte; es ist zu hoffen, dass seine Sorge unbegründet ist und beide Kontrahenten (oder keiner von beiden) von den Fans den kurzen Leistungsschub zugesprochen bekommen.
Beide Piloten haben ihre Teamkollegen deutlich im Griff: Bei e.dams-Renault steht es 140:62 gegen Nicolas Prost, bei Abt Schaeffler 141:50 gegen Daniel Abt. Dennoch sind alle vier Piloten bereits für die nächste Saison bestätigt, was auch der Tatsache geschuldet sein mag, dass sowohl Abt als auch Prost die Söhne der jeweiligen Teamchefs sind. Prost ist eher solides Mittelmaß, während Abt gute und schwächere Resultate mischt, doch beide fahren genügend Punkte ein, um die Punktekonten ihrer jeweiligen Teams so zu ergänzen, dass es auch hier nur einen Zweikampf gibt: In der Mannschaftswertung führt jedoch e.dams-Renault (202) vor Abt Schaeffler Audi Sport (191).
Dritter ist auch hier das DS Virgin Team mit Bird und Jean-Eric Vergne (der in Paris auf Rang 2 und in Berlin auf Pole fuhr); doch der Blick geht für die beiden mit 119 Zählern eher nach hinten denn nach vorne, denn dort lauert – nur sieben Punkte zurück – das Dragon Racing-Team mit Loic Duval und Jerome d’Ambrosio (2 Poles, 1 Sieg, Vierter in der Meisterschaft mit 18 Punkten Rückstand auf Bird). Nach einer starken mittleren Saisonphase blieben die beiden mit einem bunten Strauß an Problemen (Defekte, Setup, Fahrfehler) in Paris und Berlin komplett ohne Punkte; auch in London dürfte DS Virgin, die eher stärker geworden sind im Laufe der Saison, gegenüber Dragon zu favorisieren sein. Zumindest dürften die DS Virgin-Boliden, die mit Twin-Motor und Ein-Gang-Getriebe die Reifen zwar schnell auf- aber auch schnell verheizen, auf der Strecke für viel Spektakel sorgen.
Für ein Team wird der Lauf am Sonntag das letzte Rennen in der Formula E darstellen: Das Team Aguri von Aguri Suzuki und Mark Preston (einst Designer beim McLaren-F1-Team) haben ihre Lizenz an bisher noch nicht benannte Investoren verkauft. Es bleibt abzuwarten, ob hier neben Jaguar ein weiteres Werksteam in den Startlöchern steht, oder ob ein Privatier vom Schlage Aguri Suzukis sich in die Serie wagt. Ob Antonio Felix da Costa der Formula E erhalten bleibt, ist auch eine spannende Frage: der junge Portugiese hat im Vorjahr in Buenos Aires den einzigen Sieg für das Team eingefahren, aber auch in anderen Rennen starke Leistungen gezeigt. In dieser Saison ging es für die Aguri-Piloten, die noch mit dem Standard-Antriebsstrang aus der Debütsaison unterwegs waren, jedoch nur schleppend voran: zwei sechste Plätze von da Costa waren die Highlights.
Der Rennkurs im Battersea Park im Stadtbezirk Wandsworth ist kein „echter“ Straßenkurs wie die meisten anderen Strecken, auf denen in dieser Saison gefahren wurde (der permanente Kurs in Mexico City war die große Ausnahme), sondern es handelt sich vielmehr um schmale Fahrwege innerhalb der Grenzen der Grünanlage. Diese haben ein recht ausgeprägtes Dachprofil und erwiesen sich in den nicht frisch asphaltierten Teilen im Vorjahr auch als sehr buckelig; in der schnellen ersten Links-Rechts-Passage musste sogar für das zweite Rennen eine allzu heftige Bodenwelle über Nacht mit Asphalt aufgefüllt werden, nachdem in Lauf 1 eine provisorische Schikanen errichtet worden war, damit die Autos die Bodenhaftung behielten.
Diese Bedingungen erschweren das Überholen, doch Not macht erfinderisch, und so schafften es einige der Piloten, darunter Nelson Piquet jr. auf dem Weg zum Titel, zwischen den engen Schikanen Gelegenheiten zu finden oder zu schaffen. Aufgrund des erneut sehr engen Meisterschaftskampfes und der starken dazwischenfunkenden Piloten, allen voran Sam Bird, sollten uns an diesem Wochenende zwei sehr spannende Rennen ins Haus stehen, bevor die Formula E in die Sommerpause geht.
In der Sommerpause gilt es dann zeitnah, den Kalender zu überarbeiten, denn die FIA hat bereits angekündigt, dass das World Motor Sports Council den Kalender in der vorliegenden Form nicht bewilligen wird, da es an Klarheit mangele, so vermeldete Autosport. Die Lücken zwischen einigen Rennen seien zu groß; gemeint ist damit wohl insbesondere die dreimonatige Weihnachtspause, die auch konzeptionell nicht so recht zur „Winterserie“ passen will. Stattdessen ballen sich die meisten Rennen im Zeitraum Mai bis Juli, der motorsportlich ohnehin gut belegt ist, insbesondere auch im Hinblick auf die „Zweitjobs“ vieler Piloten in Sportwagen-Serien und auch bei den 24h von Le Mans.
Die Europa- und Nordamerika-Rennen jedoch, die mehr geworden sind, können aufgrund der Witterungsbedingungen erst ab dem Frühjahr ausgetragen werden; Rennen in Malaysia und Uruguay, wo im November und Dezember gefahren werden konnte, wurden aus dem Kalender gestrichen. Gerade zur „frischen“ Rennserie Formula E passen die Rennen in Ländern wie diesen jedoch recht gut, auch Marrakesch als afrikanischer Austragungsort ist zu begrüßen. Die Organisatoren haben zu viele Anfragen von willigen Austragungsstädten und es scheint, als wolle man mehr experimentieren. Mit ständig wechselnden Orten und Daten erschwert man den Fans vor Ort jedoch das „Warmwerden“ mit der noch jungen Serie – ein Stammpublikum baut man sich erst durch Konstanz des Events über mehrere Jahre auf.
Der Kalender für die dritte Saison ist ein großes Thema „neben der Strecke“, die Ausschreibungen für einen neue Chassis- und Batterie-Konstrukteure sind das andere; auch hier wurde noch keine Entscheidung verlautbart. Doch zunächst wollen wir uns auf die beiden Rennen am Wochenende in London konzentrieren: Rennstart ist am Samstag und Sonntag jeweils um 17 Uhr deutscher Zeit. DMAX ist an beiden Tagen ab 16:45 Uhr auf Sendung, Eurosport beschränkt sich auf 45-minütige Zusammenfassungen am Samstag um 19:15 Uhr sowie Sonntag um 21:45 Uhr. „Heimsender“ itv beginnt seine Liveübertragungen jeweils um 16 Uhr MESZ mit ausführlichen Vorberichten.
(Bilder: Formula E Media)