Nicht Rundenzeiten und Stintlängen waren der entscheidende Faktor im Kampf um den Le-Mans-Sieg 2017, sondern Zuverlässigkeit und Glück – oder das Fehlen eben dieser beiden Faktoren. So schien zeitweise sogar ein LMP2-Gesamtsieg möglich, doch am Ende triumphierten Timo Bernhard, Brendon Hartley und Earl Bamber und holten den dritten Sieg in Folge für Porsche.
„Es war ein verrücktes Rennen“ – aber das sagen wir eigentlich viel zu oft über 24-Stunden-Rennen. Das ist bei Langstreckenrennen vielleicht sogar eher die Regel als die Ausnahme, denn in 24 Stunden kann so viel passieren, dass es einem natürlich verrückt vorkommen mag, wenn mehrere dieser potenziellen, oft nicht besonders wahrscheinlichen Ereignisse tatsächlich eintreffen. So ein Rennen waren die 24h von Le Mans 2017: Natürlich sind technische Probleme immer möglich, gerade im Hinblick auf die „Space Age“-Technologie in den Werksprototypen, aber beide Hersteller hatten viel getestet und glaubten, ein starkes Paket zu haben.
Schon mehrfach in den letzten drei Jahren war die Zuverlässigkeit das entscheidende Element des 24-Stunden-Rennens – oder eben der Mangel der selbigen. 2014 waren es Turboschäden bei Audi, das Getriebe bei Porsche und elektrische Bauteile bei Toyota, 2015 traf es nur einen Audi mit Hybrid-Problemen, im Vorjahr gab es dann unter anderem die berühmten und dramatischen Bilder von Kazuki Nakajimas Toyota, der wenige Minuten vor Schluss in Führung liegend verlangsamte und schließlich auf der Start-Ziel-Geraden mit einem Schaden am Turbolader stehen blieb.
Die Hybrid-Werksautos sind hochentwickelte Maschinen und die Konstrukteure bewegen sich anscheinend am Limit bei ihrem Ziel, die jeweils anderen Werke über 24h auf der Rennstrecke auszustechen. Sowohl Toyota als auch Porsche haben endlose Testkilometer absolviert, 40.000 km habe man ohne nennenswerte Probleme in Le Castellet abgespult, so hieß es bei Porsche. Doch der Circuit Paul Ricard ist eben nicht der Circuit de la Sarthe und ein Test ist kein Rennen.
Erst im Rennen gehen die Fahrer wirklich ans Limit, und die Umstände eines Rennens lassen sich eben auch nicht auf der Teststrecke reproduzieren: In Le Mans herrscht Verkehr durch 55 langsamere Autos, die ständig überrundet werden wollen, dafür müssen sich die LMP1-Piloten häufig abseits der Ideallinie bewegen, wo Dreck, Reifenabrieb und Buckel warten, gerade auf den Landstraßen um Le Mans. Und wenn man sich manche Überrundungsmanöver anschaut, begreift man auch die Belastung für die Autos: Toyota #9 legte in der frühen Rennphase sogar eine Sprungeinlage auf dem Seitenstreifen der Hunaudières-Geraden hin, als Nicolas Lapierre einige GT-Piloten an einer Stelle überrunden wollte bzw. musste, an der eine andere Straße einmündete. Ich bezweifle, dass das bei Testfahrten so gemacht wird…
Die Anfangsphase: alles nach Plan
Das erste Problem für zwei LMP1-Teams, darunter für einen der Toyota, gab es schon kurz nach dem Start: Oliver Webb im ByKolles-ENSO-Nissan nahm in Tertre Rouge eines der stellenweise entlang der Strecke montierten Begrenzungshütchen mit, das daraufhin noch dem Toyota #9 um die Ohren flog. Bei der #9 war nur die Frontpartie beschädigt, für den einzigen Privat-LMP1 von Colin Kolles war das Rennen aber damit bereits beendet, da das Teil den Unterboden und die Motorkühlung stark beschädigte. Wenn man bedenkt, was dieses Team hätte erreichen können, wäre es durchgekommen, ist dieser kleine Fehler umso ärgerlicher…
Nicolas Lapierre im Toyota #9 verlor mit beschädigter Front im ersten Stint einige Zeit, während die anderen Werks-LMPs nahe beieinander blieben, mit leichtem Vorteil für Porsche: Nach einer Stunde lagen die #8 und die #7 im Paarflug vorn, Porsche #1 weniger als fünf Sekunden dahinter, Porsche #2 gute zehn Sekunden zurück. In Sachen Strategie gingen beide mehr auf Sicherheit als ans Limit: Anstatt die Stintlängen zu maximieren, ließen beide bei der ersten Runde der Tankstopps die Autos gestaffelt reinkommen, um nicht zusätzliche Gefahrenquellen in der engen Boxengasse zu schaffen und ausreichend Platz zum Arbeiten und Manövrieren zu haben.
Der zweite Stint war für beide Hersteller 13 Runden lang – damit wurde das Setting für die frühen Rennstunden klar: Weder beim Speed noch bei der Stintlänge würden sich beide viel nehmen. Dennoch fielen die beiden Porsches in den nächsten Stints etwas zurück: Viel Überrundungsverkehr und einige Slow Zones, die Porsche teils anders erwischte als die davor fahrenden Toyotas, bescherten der #1 und der #2 jeweils etwa eine halbe Minute Rückstand. Die #9 war nach dem Wechsel der Frontpartie beim ersten Stopp aber wieder mit auf der Pace: Alle Werks-LMP1 konnten konstant Zeiten im Bereich 3’20-3’22 gehen (wenn der Verkehr nicht in besonderem Maße in die Quere kam). Nach drei Stints und 39 Runden war beim Porsche #1 der erste Reifenwechsel fällig, eine Runde früher – da ein wenig off-sequence gesetzt – bei der #2. Auch alle Toyotas bekamen beim dritten Stopp neue Michelin-Pneus.
Der frühe Abend: Erste Probleme
Nach dreieinhalb Rennstunden gab es dann das erste Anzeichen dafür, wie dieses Rennen wohl weitergehen würde: An der Spitze lag immer noch Toyota #7 mit Kamui Kobayashi, dahinter gelang es Nick Tandy in der #1, am zweiten Toyota mit der #8 vorbeizugehen. Doch plötzlich gab es Rauchentwicklung am Porsche mit der Startnummer #2, dem Auto von Timo Bernhard, Earl Bamber und Brendon Hartley. Der Rauch kam nicht vom Motor, sondern von den vorderen Bremsen – sofort kam die #2 unplanmäßig an die Box und wurde in die Garage geschoben. Die Mechaniker bockten den Wagen auf und gingen an der Frontpartie zu Werke.
Das vordere kinetische Energierückgewinnungssystem (KERS), eines der zwei Hybridsysteme, die beide Autos an Bord haben, war das Problem, der Porsche hatte seinen Vorderradantrieb verloren. Und dieses Problem lässt sich nicht so einfach beheben, weil das vordere Hybridsystem tief im Inneren der Nase zwischen Aufhängung und Pedalerie verbaut ist. Der Porsche musste aufgebockt werden und die Mechaniker brauchten eine Stunde, um die beschädigten Teile auszutauschen.
Dann fuhr Brendon Hartley die #2 zurück auf die Strecke – nach seiner Aussage „flog das Auto nur so um die Strecke“ – mit 3:19.782 legte der Neuseeländer am Abend in der siebten Rennstunde auch die beste Rundenzeit des Autos hin. Doch die #2 schien hoffnungslos abgeschlagen, das Auto lag auf Gesamtrang 56 mit 18 Runden Rückstand auf die Spitze. 15 Runden Rückstand betrug der Rückstand auf die LMP2-Spitzenreiter, zu diesem Zeitpunkt die beiden Vaillante-Rebellion-Orecas. Die würde man, so die Berechnungen, noch einholen können, weil ein LMP1 pro Stunde eine Runde auf einen LMP2 aufholen kann; zudem können die neuen LMP2-Fahrzeuge nur Stints von acht bis zehn Runden Länge fahren. Es wurde also spannend, ob die #2 noch in die Top 5 würde zurückfahren können.
Dann geriet um viertel vor 11 Uhr abends auch der erste Toyota in Probleme, erstaunlicherweise sollte sich wie beim Porsche #2 das vordere Hybridsystem als Ursache erweisen: Sebastien Buemi wurde in der #8 an die Box gerufen, wo die vordere rechte Bremse für mächtig Rauchentwicklung sorgte. Auch dieser Wagen wurde in die Garage geschoben und aufgebockt. Beinahe zwei volle Stunden sollte die Reparatur hier dauern – doppelt so lang wie beim Porsche. Ob das einfach nur an einem noch ungünstiger verbauten KERS-System lag oder ob hier andere Gründe maßgeblich waren, ist unklar. Erst um viertel vor 1 Uhr nachts konnte der Wagen wieder auf die Strecke gehen, 29 Runden zurück – und selbst die LMP2-Spitze würde nach diesem langen Garagenaufenthalt unerreichbar sein.
Bizarres Toyota-Drama in der Nacht, Teil 1
Es führte derweil fast durchgehend der Toyota #7 von Conway, Kobayashi und Sarrazin, aber nur etwa 30 Sekunden betrug der Vorsprung auf den Porsche #1, der Toyota #9 lag nach seinen anfänglichen Problemen und mit einer etwas langsameren Pace inzwischen gut eine Runde zurück. Gegen 00:20 Uhr musste dann das Safety Car auf die Strecke gerufen werden, weil Olivier Pla im Ford GT Kies auf die halbe Strecke geschaufelt hatte. Bekanntlich werden in Le Mans drei Safety Cars eingesetzt, um herausgefahrene Abstände nicht gänzlich zunichte zu machen – beeinflusst werden sie aber selbstverständlich dennoch. So landete der Porsche hinter einem anderen Safety Car als der führende Toyota und der Abstand zwischen beiden wurde so auf gut eine Minute erweitert.
In dieser Safety-Car-Phase begann dann das Drama für Toyota, insbesondere für die führende #7 – und damit ist nicht die Untersuchung wegen möglichen Überholens unter Gelb gemeint, deren Ergebnis bis heute noch aussteht. Vielmehr spielten sich beim Boxenstopp der #7 verwirrende Szenen ab. Bei Boxenstopps während Safety-Car-Phasen in Le Mans muss man am Ende der Boxengasse warten, bis die nächste Safety Car-Schlange vorbeifährt; dann springt die Ampel auf Grün und man darf sich einreihen, verliert somit bereinigt etwa eine Minute, wie bei einem normalen Tankstopp (gut also für längere Arbeiten).
Nach seinem Routine-Stopp um halb 1 stand Kamui Kobayashi also am Ende der Boxengasse als Erster in der Schlange vor der roten Ampel, wartend auf die Vorbeifahrt der nächsten Safety-Car-Gruppe. Plötzlich wurde es bizarr: Ein in orange-schwarze Overalls gekleideter Mann mit Helm – nicht unähnlich der Bekleidung eines Marshalls – trat an das Auto heran und deutete Kobayashi mit Gesten, er solle losfahren. Die Fahrer sind angewiesen, menschliche Signale höher zu werten als technische, als die Ampel also in diesem Falle.
Und so wollte Kobayashi losfahren – doch sein Team wies ihn über Funk an, die Position zu halten und auf das Safety Car zu warten. Mehrfach ließ der Japaner die Kupplung kommen und das Auto anrollen, nur um doch wieder zu stoppen. Das war zu viel für die Kupplung. Zwar konnte sich Kobayashi schlussendlich regelgerecht hinter dem Safety Car einreihen und die letzte Runde hinter diesem absolvieren – doch als das Rennen wieder freigegeben wurde und er Gas geben wollte, beschleunigte der Toyota nicht mehr. Die Kupplung war durch, der Wagen rollte noch durch die Esses und Tertre Rouge, dann stellte Kobayashi ihn ab. Mehrmals versuchte er noch loszukommen, schlich teils mit 11 km/h um den Kurs, doch zur Box zurück sollte er es nicht mehr schaffen.
Wer aber war der seltsame Mann, der Kobayashi zum Losfahren bei roter Ampel ermutigen wollte? Einige Berichte sprechen von einem verkleideten Mann – doch unsere vergleichende Bildanalyse hat noch Erstaunlicheres ergeben: Es sieht aus, als sei es Vincent Capillaire gewesen, einer der Piloten des LMP2-Teams Algarve Pro Racing, Anzug und Helm lassen sich recht eindeutig zuordnen (siehe nebenstehendes Bild) – oder jemand hat sich der Rennbekleidung von Capillaire bedient. Eine offizielle Bestätigung dessen gibt es noch nicht, also auch keine Erklärung. Was ein anderer Pilot am Ende der Boxengasse zu suchen hat und wieso er anderen Fahrern irreführende Signale gibt, ist völlig unerklärlich; ebenso schlimm wäre es aber auch, wenn jemand anderes sich der Kleidung eines Piloten bedient hätte und dann diese Situation verursacht hat. Da es den Ausfall des Gesamtführenden zur Folge hatte, wird das auch sicher noch Diskussionen auslösen.
Bizarres Toyota-Drama in der Nacht, Teil 2
Und das unglaubliche Drama für die Japaner ging kurz darauf weiter. Porsche #1 hatte nun die Führung übernommen und der über eine Runde zurückliegende Toyota #9 mit Nicolas Lapierre am Steuer würde sich auf die Jagd machen müssen – bei den bisher sehr ähnlichen Rundenzeiten würde es schwierig werden, diesen Rückstand wettzumachen, zumal Nick Tandy in der #1 in der Nacht sehr stark unterwegs war.
Doch selbst der Versuch wurde schon im Keim erstickt: Um 01:13 Uhr wurden die Safety Cars erneut auf die Strecke gerufen, weil der Manor-LMP2 von Simon Trummer im Dunlop-Bogen im Kies stand. Was zunächst ein allein verursachter Zwischenfall zu sein schien, entpuppte sich jedoch als etwas anderes, auch wenn es hiervon keine Kamerabilder gab. Denn plötzlich humpelte auch der #9-Toyota mit Reifenschaden hinten links um die Strecke. Der Grund war zunächst unklar, doch eine Kollision mit dem Manor-Oreca beim Überrunden ist der Grund gewesen. Zur Schuldfrage kann ich ohne bewegte Bilder nichts sagen.
Lapierre versuchte selbstverständlich, den letzten noch um den Sieg kämpfenden Toyota an die Box zurückzubringen, da noch fast eine ganze Runde zu fahren war, würde das einen großen Zeitverlust bedeuten. Den wollte der Franzose minimieren, doch seine ungestüme Fahrweise – schlichtweg zu schnell für einen Reifenschaden – sorgte für noch mehr Schaden: Der zerfetzte Reifen zerschlug die Heckpartie des Autos und dabei nicht nur ersetzbare Aerodynamik-Teile, sondern auch den Ölkühler des V6-Motors sowie das Recovery-System. Der Wagen fing teils sogar Feuer. In diesem Zustand war auch die #9 nicht mehr fahrtüchtig und strandete schließlich – wie bei der #7 nach mehreren erneuten Anfahrversuchen – ausgangs der Porsche-Kurven endgültig.
Der Rest der Nacht und das Ende der #1
Damit war das Rennen für Toyota gelaufen: die #7 und die #9 waren komplett aus dem Rennen und die #8 war fast 30 Runden zurück und damit völlig außer Reichweite, selbst gegen die LMP2s würde man keine Chance mehr haben. Nur ein Werks-LMP1 verblieb an der Spitze: der Porsche mit der Startnummer #1 von Neel Jani, Andre Lotterer und Nick Tandy. Dass Jani bei der Einfahrt in der Boxengasse hinter dem Safety Car das Auto verloren hatte und die Frontpartie getauscht werden musste, fiel im Vergleich zu der Situation bei Toyota nicht mehr ins Gewicht.
Zur Rennhalbzeit führte Porsche #1 mit neun Runde Vorsprung vor dem besten LMP2, nach wie vor aus dem Hause Rebellion Racing. Einholen würde ihn der Bolide aus der langsameren Klasse keinesfalls, also ging es nur darum, das Auto auch für die verbleibenden zwölf Runden am Laufen zu halten. Die Fahrer – erst Tandy, dann Lotterer – gingen sanft zu Werke, fuhren Rundenzeiten im Bereich 3’28-3’30, ähnlich denen der LMP2-Spitze. Somit wuchs der Vorsprung auch nur sehr allmählich und vor allem durch die häufigeren Boxenstopps der LMP2s.
Das Schwesterauto, die #2, lag zur Rennmitte schon wieder auf Gesamtrang 16, hatte also das komplette GTE-Feld kassiert. 18 Runden betrug der Rückstand auf den Führenden, neun Runden der auf die besten LMP2s – plötzlich schien also sogar ein Porsche-Doppelsieg möglich. Während die #1 vorn langsam machte, fuhr die #2 konstant flotte Runden im Bereich 3’22-3‘25, um dieses Ziel zu erreichen. Noch schneller unterwegs war Toyota #8, der teilweise sogar in die 3‘18er herunterging, doch hier musste man auf einen Ausfall der beiden Porsche hoffen, um die Klasse noch zu gewinnen, sowie auf einen Ausfall des LMP2-Spitzenfeldes, um noch das Gesamt-Podium erreichen zu können.
So ging es in den Morgen und für Porsche lief alles nach Plan – soweit man die Ereignisse der Nacht als „Plan“ bezeichnen kann. Um 11 Uhr morgens, nach 21 Rennstunden, schlug dann – ganz plötzlich, ohne Vorwarnung – auch bei Porsche der Defektteufel zu: Ausgangs der Esses rollte plötzlich die führende #1 langsam über die Strecke. „Kein Öldruck“, meldete Pilot Lotterer an die Box – und die wies ihn an, den Verbrennungsmotor auszuschalten, weil sich eine Temperaturüberhöhung ankündigte. Wie schon die Toyotas in der Nacht musste man versuchen, das Auto nur mit Batterieleistung zurück an die Box zu schleppen, doch da es auch in diesem Falle wieder fast eine vollständige Runde war, reichte die Energie nicht.
Noch auf der Hunaudières-Geraden musste Lotterer das Auto abstellen; warum man – wie Teamchef Andreas Seidel erklärte – aus Vorsorgegründen den Verbrennungsmotor abstellen ließ, ist mir nicht klar, immerhin geht es um den Le-Mans-Sieg, da hätte man vielleicht auch das Risiko in Kauf nehmen können, mit einem überhitzenden Benziner zurück an die Box zu humpeln. 13 Runden Vorsprung hatte man bis zu diesem Punkt auf den führenden LMP2 – den Oreca #39 des Jackie-Chan-DC-Racing-Teams – herausgeholt, doch das war nun alles für die Katz, einen Reparaturversuch konnte es am Streckenrand nicht geben. Ein LMP2 würde die Gesamtführung bei den 24h von Le Mans übernehmen – und plötzlich war wieder Spannung drin in diesem totgeglaubten Rennen: Die Aufholjagd der #2 war nun von tatsächlicher Bedeutung, denn mit diesem Auto würde Porsche immer noch eine Chance auf den Gesamtsieg haben. Dafür musste es nur gelingen, die LMP2-Spitze zu passieren.
Das LMP2-Rennen bis dahin
Und an der Spitze der LMP2-Klasse lag zu diesem Zeitpunkt – wie bereits erwähnt – einer der zwei Orecas des Jackie-Chan-DC-Racing-Teams, eingesetzt von Jota Sport, die in den letzten Jahren mehrfach stark in Le Mans unterwegs waren. Der Klassensieg 2014 gelang ihnen mit dem alten Zytek-Chassis (und Zytek heißt jetzt Gibson) ebenso der zweite Platz 2015 – beide mit der Startnummer #38, woraus das Team den Mythos der „Mighty 38“ entwickelte. Nun ist nur noch der Motor von Gibson, aber die #38 war wieder einmal mächtig gut unterwegs, die neue „Mighty 38“ führte in Le Mans weniger als vier Stunden vor Schluss das Gesamtklassement an! Wie war es dazu gekommen?
Das Rennen um die Podiumsplätze in der LMP2-Klasse spielte sich im Wesentlichen unter den Teilnehmern aus der WEC, der Langstrecken-Weltmeisterschaft ab: Jackie Chan DC Racing, CEFC Manor Racing und Vaillante Rebellion jeweils mit zwei Autos, allesamt auf Oreca und mit dem Gibson-Einheitsmotor. Hinzuzählen muss man noch Signatech-Alpine (hinter dem Namen verstecken sich ebenfalls Oreca-Chassis) mit einem Wagen aus der WEC und einem aus der ELMS; den WEC-Wagen versenkte Gustavo Menezes aber bereits in der ersten Rennstunde in Mulsanne im Kies, wodurch dieser zu weit zurückfiel, um noch eine Rolle spielen zu können.
Ähnlich erging es dem G-Drive-Team, dessen Oreca von seinem Sponsor Roman Rusinov früh aus dem Rennen genommen wurde: Rusinov, eigentlich ein schneller Pilot, war eindeutig übereifrig und rempelte beim Überrunden des #88 Proton-Porsche in den Porsche-Kurven diesen und sich selbst in die Wand. Nachdem er bereits in den Trainingstagen mehrere Verfehlungen begangen hatte, werden Rusinov und sein Team hierfür mit einer dreiminütigen Zeitstrafe beim nächsten WEC-Lauf am Nürburgring belegt werden. Zwei Podiumskandidaten in der LMP2 waren somit aber bereits vor Ablauf der ersten Rennstunde aus dem Rennen (der Signatech-Alpine nur de facto, weil er zwei Runde verlor, aber weiterfahren konnte).
Auf den ersten sechs Positionen setzten sich die je zwei Autos von Jackie Chan DC Racing, CEFC Manor und Vaillante Rebellion fest, dahinter hielt sich der ELMS-Wagen von Signatech. Bei gleichem Material waren es vor allem Fahrer und Setup, die einen Unterschied machten, und so wuchsen die Abstände langsam, aber stetig. An der Spitze dominierte das Vaillante-Rebellion-Team mit einer Doppelführung: Nach fünf Rennstunden lag die #31 mit Prost / Canal / Senna knapp 55 Sekunden vor der #13 von Piquet jr. / Heinemeier-Hansson / Beche und gut anderthalb Minuten vor dem zu dem Zeitpunkt Bestplatzierten des Verfolgerquintetts, in dem immer wieder die Plätze wechselten. Der Signatech-Alpine #35 mit Panciatici / Ragues / Negrao lag meist auf Rang 7, dahinter hielt die weitere Konkurrenz Respektabstand. Aus diesen sieben Fahrzeugen würde der Klassensieger gekürt werden – und bei ausreichender Zuverlässigkeit auch das gesamte Klassenpodium.
Die beiden Rebellion-Autos gaben sich keine Blöße. Die Piloten fuhren konstant gute Rundenzeiten, die Stopps funktionierten, gravierende Fehler blieben aus – das britische Team unter der Flagge des Schweizer Edeluhren-Herstellers bewies, dass es in seinen Jahren als LMP1-Privatier unter Wert geschlagen wurde. Nur in Boxenstopp-Zyklen gab man die Führung das eine oder andere Mal kurzzeitig ab. Nelson Piquet jr., Mathias Beche und Bruno Senna gehörten zu den schnellsten LMP2-Piloten des Rennens, Senna fiel nur wenig dahinter ab, und mit Dabid Heinemeier-Hansson und Julien Canal hatte man zwei der besten Nicht-Vollprofis des gesamten LMP2-Feldes am Start und insbesondere das ist auch ein Aspekt, der Rebellion einen Vorsprung gab. Nur wenige Silber-Piloten waren schneller als diese beiden, einer davon, Thomas Laurent im Jackie Chan-Auto #38, der aber ein Nachwuchs-Vollprofi ist und nur aufgrund seiner (bisher) mangelnden Erfolge diese Einstufung genießt.
In der Nacht wurde das Rennen allerdings wieder enger, insbesondere die #38 von Jackie Chan DC Racing, mit besagtem Thomas Laurent, aber in den Nachtstunden konnten sich insbesondere seine Teamkollegen Ho-Pin Tung und Oliver Jarvis in Szene setzen und den Vorsprung verringern. Das ist umso bemerkenswerter, als dieses Auto früh im Rennen kleinere Probleme hatte, einmal mit dem Anlasser in der Box und einmal gab es einen Verbremser mit Reifenstapel-Kontakt in der Indianapolis-Kurve. Man war aber nie außer Schlagdistanz geraten und das ist entscheidend bei diesem engen LMP2-Spitzenfeld.
Kurz nach 4 Uhr morgens, nach 13 Stunden Rennzeit, kippte das Pendel zugunsten von Jackie Chan Racing: Nachdem es bisher immer nur aufgrund unterschiedlicher Tankstopp-Rhythmen zu Führungswechseln gekommen war, kam es nun zum direkten Duell zwischen dem führenden Rebellion #13 und der #38 auf der Strecke. Zu dem Zeitpunkt saß Gentleman Driver David Heinemeier-Hansson in der #13, Ex-Audi-LMP1-Pilot Oliver Jarvis im Jackie-Chan-Auto. Das Duell war ungleich und Jarvis ging vorbei, um dann weiter davon zu ziehen. Von da an waren die Rebellions, die solange ihre Doppelführung verteidigt hatten, die Jäger; bereinigt man das Tableau um die durch den Stopprhythmus bedingten Führungswechsel, gab die #38 die Spitzenposition ab diesem Punkt für den Rest des Rennens nicht mehr ab.
Rebellion #31 hatte schon in der Nacht etwas Zeit mit Problemen am Startermotor bekommen – und damit Schwierigkeiten beim Losfahren nach den Boxenstopps, bei denen der Motor ausgeschaltet sein muss. Kurz nach 9 Uhr morgens wurde der Wagen dann in die Garage geschoben, das Team werkelte eifrig am Heck und suchte eine Lösung für das Problem: Schlussendlich schnitt man ein Loch in die Motorabdeckung, um einfacher an den Startermotor heranzukommen und das Auto nach Stopps wieder zum Laufen bringen zu können.
Anderthalb Stunden später erwischte der Defektteufel dann auch die #13: Hier war ein Bremskühlerschlauch auszutauschen, man verlor rund vier Minuten und war damit aus dem Kampf um den Klassensieg raus. So ergab sich das Bild, dass um 11 Uhr morgens der #38 Jackie Chan DC Racing-Oreca einsam an der LMP2-Spitze lag, knapp zwei Runden vor dem #13 Rebellion und dem #35 Signatech-Alpine, der bis dahin sauber durchgekommen war und von den Problemen der Konkurrenz profitiert hatte.
Die Aufholjagd der #2 zur Abwendung einer Blamage
Und nur wenige Minuten später, um kurz nach 11, war die #38 dann nicht nur der Klassenführende, sondern Spitzenreiter des Rennens insgesamt. In der Klasse lagen Tung, Laurent und Jarvis nahezu uneinholbar vorn, doch der Porsche #2 holte kontinuierlich auf. Laurent im Oreca war schnell unterwegs, aber das Tempo eines Brendon Hartley im Werks-Hybrid-LMP1 von Porsche konnte er selbstverständlich nicht mitgehen. Es zahlte sich für Porsche aus, dass man in der Nacht mit der #2 gut angegast hatte und nicht nur auf Ankommen gefahren war.
Etwa eine Runde pro Stunde würde ein Hybrid-LMP1 auf einen LMP2 aufholen können, soweit die Berechnung. Slow Zones würde diese Marge verringern, Safety Cars sie zeitweise sogar einfrieren. Doch Porsche hatte Glück: Nur wenige vereinzelte Slow Zones bremsten die #2 aus, das Safety Car kam gar nicht mehr zum Einsatz. Und so dauerte es nur etwa zweieinhalb Stunden, bis Timo Bernhard im Porsche um 13:53 Uhr kurz vor dem Rechtsknick vor Indianapolis am wehrlosen Ho-Pin Tung im Oreca-Gibson vorbeiging. Bei Jackie Chan Racing / Jota Sport war man sich selbstverständlich bewusst, dass man nicht aus eigener Kraft den Gesamtsieg holen konnte, sondern sich auf den LMP2-Klassensieg konzentrieren musste – was das Team auch tat.
Die Gedankenspiele und Konjunktive werden aber in den Köpfen der Teammitglieder gewesen sein – ebenso wie in denen der Vertreter der LMP1-Werksteams: Was wäre, wenn ein LMP2 den Gesamtsieg in Le Mans holt? Wenn ein eng reguliertes, (relativ) kostengünstiges Rennauto mit simplem V8-Benziner im Heck in 24 Stunden beim größten Rennen der Welt mehr Distanz zurücklegt als ein mit massivem Geldeinsatz entwickelter High-Tech-Prototyp mit V4-Turbomotor mit Vorkammerzündung und zwei verschiedenen Hybridsystemen? 10 Millionen Euro vs. 150 Millionen Euro. Es wäre eine Blamage für beide, Porsche und Toyota, gewesen, an der man nur knapp vorbeigeschrammt ist: 5 Minuten mehr Standzeit in der Box bei der Reparatur des Hybridsystems und der Sieg wäre außer Reichweite gewesen.
Fragen für die Zukunft
So aber konnte Timo Bernhard in der letzten Rennstunde den Sieg ungefährdet nach Hause fahren, auch die Technik machte keine Probleme, und kurz vor Schluss konnte der Porsche dem Jackie-Chan-Oreca sogar noch eine Runde Rückstand aufdrücken. Für Porsche ist es der Hattrick nach dem Wiedereinstieg 2014 und Siegen in den letzten beiden Jahren sowie der 19. Sieg insgesamt. Aufgrund dieses Rennens werden sich aber einige Verantwortliche – sowohl bei Porsche als auch bei Toyota – die Frage stellen, wie viel Sinn die Weiterführung dieses Engagements noch macht, wenn die Gefahr einer Blamage so groß ist. Schließlich will man mit den Hightech-Antrieben für seine Straßenautos werben – fallen alle Prototypen mit Schäden an Hybrid- oder konventionellem Antrieb aus, schmälert das selbstverständlich den Werbeeffekt.
Auch das neue Reglement für die Phase ab 2020, dessen Grundzüge der ACO am Freitag vor dem Rennen präsentierte, hilft in dieser Frage nicht weiter, denn die Organisatoren setzen auf ein Weiterführen des derzeitigen Reglements – mit mehreren Maßnahmen zur Kostenreduktion, darunter das teilweise Einfrieren der Antriebstechnik. Man will Peugeot zum Wiedereinstieg überreden, aber Porsche und Toyota halten – ob das klappt, werden wir in den nächsten Monaten sehen. Am vergangenen Wochenende sagen wir zunächst einmal das erste klassengemischte Gesamtpodium seit 1995.
In Le Mans aber war bei Porsche selbstverständlich erst einmal eitel Sonnenschein, schließlich stand man mit Timo Bernhard und den beiden Neuseeländern Brendon Hartley und Earl Bamber erneut ganz oben auf dem Podium – auch auf dem separat gefeierten LMP1-Podium, auf dessen zweite Stufe sich Sebastien Buemi, Anthony Dacidson und Kazuki Nakajima stellen durften, die den #8-Toyota nach der Reparatur ebenfalls problemlos durchs restliche Rennen brachten, aber nur noch Gesamtrang 9 erreichen konnten, auch wenn Sebastien Buemi unterwegs mit einer 3’18.604 die schnellste Rennrunde gelang.
Bei Jackie Chan Racing freute man sich über den zweiten Gesamtrang und den Klassensieg, Ho-Pin Tung, Thomas Laurent und Oliver Jarvis durften also auch zweimal aufs Podium; für Jota Sport ist es der zweite Sieg in Le Mans nach 2014. In der Klassenwertung durfte das zweite Auto, die #37 mit Alex Brundle, Dabid Cheng und Tristan Gommendy, sogar mit aufs Podium, da sie hinter dem Vaillante Rebellion-Oreca #13 (Piquet jr. / Heinemeier –Hansson / Beche) Dritte wurden. Für Rebellion war der dritte Platz auf dem Gesamtpodium besonders erfreulich, weil man diesen als LMP1-Privater zweimal knapp verpasst hatte.
Rebellion und das unerlaubte Loch
Doch die Freude währte nicht lange: Am Montag verlautbarte die Rennleitung die Disqualifikation des Rebellion #13: Das Loch, das das Team in die Motorabdeckung gebohrt hatte, um an den Startermotor heranzukommen, stelle einen unzulässige Veränderung der homologierten Karosserie dar. Außerdem hatte das Team nach dem Rennen versucht, im Parc Fermé unzulässigerweise am Auto zu arbeiten. Somit wird nachträglich Jackie Chan DC Racing sogar ein Doppelsieg in der LMP2 und ein doppeltes Gesamt-Podium zugesprochen. Rebellion Racing hat aber bereits angekündigt, in Berufung gehen zu wollen.
Auf Rang 3 der Klassenwertung rückt zunächst aber Signatech-Alpine mit dem Fahrertrio Nelson Panciatici, Pierre Ragues und André Negrao auf. Vierte werden dahinter die Mannen von United Autosport als stärkstes Nicht-Oreca-Team; dies ist ein bemerkenswertes Ergebnis, wenn man bedenkt, wie weit abgeschlagen die anderen Hersteller auf eine Runde gerechnet waren: Volle drei Sekunden liegen zwischen der Bestzeit des Klassensiegers und der des United Autosport-Ligiers, der von Will Owen, Hugo de Sadeleer und Filipe Albuquerque dafür aber umso konstanter bewegt wurde.
Und damit zu den „honourable mentions“ derjenigen, die ich zwar in meiner Vorschau immer ganz unten stehen habe, die dann aber mit einem sauberen Rennen und solider Pace am Ende plötzlich doch in den Top Ten auftauchen: So wurde Cillorba Corse auf Rang 7 (einschließlich Rebellion-Ausschluss) bester Dallara, Tockwith Motorsport erreicht Rang 9 und Vater und Sohn Lafargue in ihrem Segelteam-Ableger IDEC Sport Racing werden Zehnte in der LMP2. Rubens Barrichello und Jan Lammers werden im niederländischen Promi-Dallara Klassenelfte und das zweite Vater-Sohn-Duo, die Nicolets, werden im Eurasia-Ligier Dreizehnte. Durchgekommen ist auch der einzige Vertreter des vierten LMP2-Fabrikats, Keating Motorsports mit dem Riley Mk.30 auf dem letzten Platz der Klasse.
Trotz eines neuen technischen Reglements und der Fortführung der Kostenobergrenze fielen nur vier der 24 gestarteten LMP2-Boliden aus – in der LMP1 fielen ebenfalls vier Autos aus, allerdings bei nur sechs Startern. Nach diesem Rennen stehen hinter der Zukunft der Klasse größere Fragezeichen als je zuvor.
(Bilder: WEC, ELMS, Porsche, Toyota, Vision Sport Agency, Screenshot WEC-Stream)
2 Kommentare
Wenn ich das recht in Erinnerung habe, wurde bei RLM die Anweisung zum Abschalten des Verbrennungsmotors in der #1 durch Lotterer damit erklärt, dass der Motor auch noch weiter im Rest der WEC-Saison eingesetzt werden muss/will/soll.
Euer Artikel hat mir gut gefallen. Er war ausführlich und ich bin begeistert. Er trifft es harrgenau und ich war dabei.
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