Neuer Kurs, neues Glück: die Formula E startet die diesjährige Europa-Tournee in Rom. Vor monumentaler Kulisse (nein, es geht nicht um das Kolosseum) wird Jean-Eric Vergne versuchen, seinen Vorsprung auszubauen.
Die Architektur von Faschisten, Diktatoren und sonstigen zweifelhaften Regimen eignet sich anscheinend ganz wunderbar, um vor ihr Autorennen abzuhalten: in Berlin war und ist die Formula E auf dem von den Nazis als Symbol des Fortschritts errichteten Flughafen Tempelhof unterwegs, als das mal nicht klappte, wurde auf die Paradestraße der DDR mit ihren „Arbeiterpalästen“ ausgewichen – und als in Berlin mal alle Stricke zu reißen drohten, war selbstverständlich der Norisring in Nürnberg sofort im Gespräch. In Moskau wurde am Rande des Roten Platzes gefahren, wie die Karl-Marx-Allee ebenfalls eine Aufmarschfläche des kommunistischen Regimes. Und in Rom wird nun also im EUR gefahren.
Dieses Kürzel steht nicht etwa für ein EU-Projekt, sondern für „Esposizione Universale di Roma“, denn diesen Stadtteil ließ Benito Mussolini errichten, um dort 1942 – zum zwanzigjährigen Jubiläum der faschistischen Machtergreifung – eine Weltausstellung abhalten zu lassen. Dazu kam es nicht, auch wenn bis 1942 an dem Projekt gebaut wurde. Erst nach dem Krieg wurde – dann im Sinne des demokratischen Aufbruchs und der Nachkriegsmoderne – am EUR weitergebaut, unter anderem steht dort der Palazzo dello Sport, der für die Olympischen Spiele 1960 errichtet wurde. Der bekannteste Palazzo im EUR-Quartier ist aber ein anderer, der Palazzo della Civiltà Italiana, also der Palast der Italienischen Zivilisation, der ursprünglich als ein Museum zur Verherrlichung des Faschismus vorgesehen war. Heute sitzt in dem neoklassizistischen Bau mit der an das Kolosseum erinnernden Rundbogen-Fassade ein Mode-Label.
Dass vor solchen Gebäuden gern Events veranstaltet werden, liegt natürlich vor allem an der medienwirksamen Monumentalität. Man erkennt diesen Bau und kann ihn zuordnen, es lassen sich tolle Kameraperspektiven mit einer solchen Landmarke im Hintergrund finden, für Fernsehen und Stream wie auch für Fotos. Das geht natürlich auch mit Architektur ohne derartige Vorgeschichte, nicht umsonst wollte man in New York in Sichtweite von Manhattan fahren, und in Paris umrundet man den Invalidendom – natürlich mit Blick auf den Eiffelturm: Wenn schon Stadtkurs, dann richtig, scheint das Motto zu lauten. Ich persönlich finde es auch gut, erhaltenswerte, aber politisch „vorbelastete“ Bauten weiter zu nutzen und in einen anderen, neuen, modernen, demokratischen Kontext zu setzen, sofern man nicht versucht, ihre Geschichte auszuradieren. Um daran zu erinnern, dieser kleine Exkurs in die Stadtbaugeschichte.
Auftakt 2019 in Riad?
Dass gerade jetzt in Rom gefahren wird, wo e-racing365.com einen möglicher Kalenderentwurf für die Saison 2018-19 veröffentlicht hat, in dem Riad den Auftakt markieren würde, erzwingt dann aber beinahe doch einen politischen Kontext. Riad ist die Hauptstadt Saudi-Arabiens, einer der letzten absoluten Monarchien der Welt und Heimat des Wahhabismus, einer besonders konservativen bis fundamentalistischen Richtung des Islams, was leider zulasten der Menschenrechte geht. Aber wie andere Länder, die bisher vom Öl leben (auch das eigentlich ein Widerspruch zur FE-Grundausrichtung), will auch Saudi-Arabien in Zukunft stärker auf den Tourismus setzen und sich entsprechend neu positionieren. Nun stehen auch andere „schwierige“ Länder wie Russland und Bahrain seit Jahren und fortdauernd auf den Kalendern der Motorsport-Welt, aber ich hoffe (noch), dass die Formula E um Riad einen Bogen macht.
Ein zweiter neuer Austragungsorts könnte die chinesische Insel-Provinz Hainan sein, wobei Hong Kong wohl im Kalender verbleiben würde. China ist einfach ein so großer Markt für die Elektromobilität, dass man dort zweimal fahren möchte. Bei anderen Austragungsorten wird noch diskutiert, z.B. ob Santiago de Chile bleibt oder Buenos Aires mit seinem – wie ich finde – tollen FE-Kurses zurückkehrt, oder ob Berlin möglicherweise durch München ersetzt wird. Unglücklich finde ich allerdings auch, dass der Saisonstart wohl noch weiter nach hinten rücken wird, laut e-racing365.com stünde Riad erst im Dezember auf dem Plan. Nur vier Events würden bis Februar ausgetragen, die restlichen zwischen März und Juli, wenn auch die meisten anderen Rennserien wieder Vollgas geben. Die Idee einer Winterserie geht so mehr und mehr verloren…
Zum sportlichen Teil – der Rome ePrix
Nun aber erstmal Rom: der Kurs, den man dort abgesteckt hat, ist im Grunde zweiteilig: es gibt den engen, winkligen Teil durch die Bebauung des EUR (etwa von der Start- bis zur Ziellinie, die nicht zusammen liegen). Und dann gibt es nach der Ziellinie einen Teil mit zwei längeren Vollgas-Passagen, die aber nicht geradeaus führen, sondern recht stark (und symmetrisch) geschwungen sind – und außerdem bergab und dann wider bergauf führen. Dazwischen gibt es einen kurzen Tunnel, der eine an dieser Stelle zehnspurige Straße unterquert. Die erste dieser Passagen könnte wegen des Bergab-Anbremsens der folgenden 90°-Links zum Überholen taugen, insbesondere auch weil man wahrscheinlich bereits in der Kurve auf die Bremse wird treten müssen. Aber auch die zweite, nach dem Tunnel folgende Vollgas-Passage, dürfte zum Überholen einladen, es ist mit ca. 550 Metern die längste Vollgas-Passage der Strecke, anderen Ende wiederum 90°-Links steht.
Das ist dann auch der Punkt, wo man am nächsten am zuvor beschriebenen Palazzo della Civiltà Italiana dran ist. Von dort aus fährt man dann geradewegs auf den Palazzo die Congressi zu. Vor dessen Hauptfassade ist auch die Ziellinie, für die Boxengasse geht es einmal um diesen Kongresspalast drumherum. Aber dazwischen fährt man noch um einige Ecken, und eben das ist der langsame, technische Teil der Strecke mit mehreren Schikanen, einer Haarnadel und 90°-Kurven in mal weiterer, mal engerer Abfolge. Wie dieser sich dieser Teil vor Ort und führ die Fahrer tatsächlich darstellt, bleibt abzuwarten, aber auf wahrscheinlich Grip-armem Asphalt wird es hier sicherlich den einen oder anderen (Aus-)Rutscher geben.
👀 Your first look at the Circuto Cittadino Dell’EUR, ahead of next weekends 2018 CBMM Niobium #RomeEPrix presented by Mercedes EQ!
Thoughts? #ABBFormulaE pic.twitter.com/gxaB1MCoZE
— ABB Formula E (@FIAFormulaE) 8. April 2018
Mit 2,84 km ist der Circuito Cittadino Dell’EUR die zweitlängste Strecke im Kalender – nach dem semi-permanenten Kurs in Marrakesch. Für die Strategie heißt das, dass man durch Energiesparen wahrscheinlich kaum mehr als eine zusätzliche Runde im ersten Auto herausholen kann. Es werden also alle recht nah beieinander zu den Fahrzeugwechsel-Stopps hineinkommen, was – gerade bei einer winkligen, möglicherweise schlecht einsehbaren Boxengasse – ohne die Mindestzeit die Gefahr von „unsafe releases“ birgt. Aber nachdem Alejandro Agag und eine Formula E-Abordnung in der vergangenen Woche den Papst im Vatikan besucht hat (übrigens eine der anderen absoluten Monarchien mit stark religiöser Prägung *zwinker*), sollte doch hoffentlich alles gutgehen.
Einziger italienischer Fahrer im Feld ist Luca Filippi für das NextEV NIO-Team, das sich in diesem Jahr aber weiterhin schwer tut: nur Platz 8 in der Teamwertung, aber einmal, in Mexico, konnte Oliver Turvey aufs Podium fahren. Filippis beste Platzierung ist einzehnter Rang beim Auftakt in Hong Kong. Favoriten aufs Podium sind demnach eher andere: Jean Eric Vergne als inzwischen klarer Titelfavorit mit 30 Punkten Vorsprung und zwei Siegen auf dem Konto ist noch nicht ein einziges Mal schlechter als Rang 5 gewesen. Felix Rosenqvist, wie Vergne mit zwei Siegen, hat dagegen schon zwei punktelose Resultate auf dem Konto, besonders ärgerlich war der technische Defekt in Mexico, der ihn Führung und möglicherweise Sieg gekostet hat.
Technische Defekte sind ohnehin ein prägendes Element dieser vierten Formula E-Saison, besonders Lucas di Grassi war hier sehr gebeutelt, konnte nun aber in den letzten zwei Läufen endlich Punkte einfahren, deren 18 dank Platz 2 in Punta del Este. Dort hatte allerdings sein Teamkollege Daniel Abt ein besonders ärgerliches und erschreckendes Problem, denn bei ihm öffnete sich nach dem Fahrzeugwechsel plötzlich der Gurt – er musste zum erneuten Festschnallen in die Box kommen und verlor so einen Podiumsplatz. Zusammen mit der ärgerlichen Disqualifikation in Hong Kong fehlen Abt so schon 40 Punkte, mit denen er in der Meisterschaftstabelle weit vorn mitspielen könnte.
Dritter in Punta del Este war hinter Sieger Vergne und Lucas di Grassi der Brite Sam Bird, der auch auf Rang 3 der Meisterschaft liegt, nur knapp hinter Rosenqvist. Er ist eine konstante Größe seit Beginn der Formula E, wurde allerdings in den früheren Jahren meist durch das schwierige DS Virgin-Auto zurückgehalten. Jetzt passt die technische Seite endlich einmal, und doch ist Konkurrent Vergne zur Saisonmitte schon um 33 Zähler enteilt. Dahinter folgt Sebastien Buemi, der mit 57 Zählern Rückstand auf Vergne allerdings wohl wirklich schon aus dem Rennen ist, wenn er nicht eine beispiellose Aufholjagd startet.
Wann und wo zu sehen?
Die Jagd auf Jean-Eric Vergne geht also weiter an diesem Samstag: Start ist um 16 Uhr. Eurosport ist live dabei, mit Vorberichten ab 15:45 Uhr. Auch eine Aufzeichnung der Quali wird vorher gezeigt, allerdings kann man die auch live auf Eurosport schauen, und zwar um 12 Uhr mittags.
Bildergalerie Punta del Este ePrix:
Bilder (soweit nicht anders angegeben): Formula E Media
2 Kommentare
Stellvertretend für viele Formel E-Texte, die ich hier schon gelesen habe, wollte ich mich bei euch herzlich bedanken – ich finde, es sind klasse Hintergründe. Und ich freue mich immer, dass es hier einen Platz gibt, wo auch hintergründig, historisch, manchmal kritisch und insgesamt ein bisschen breiter über diese spannende Serie berichtet wird! Das fehlt anderswo oft, denn viel von der Formel E-Berichterstattung wird ja von der Formel E selbst produziert, wo dann natürlich keien kritischen Stimmen erwünscht sind…
Ich möchte Stefan auch nochmal ausdrücklich loben. Die Mischung aus kritischem Mehrwert und Werbung für eRacing ist tatsächlich bemerkenswert-einmalig. Aus der Sicht der Medienlandschaft zwar schade – für uns ein Glücksfall. Letzteres gilt sicherlich auch für sein Fachwissen zum Thema Städtebau und die Faszination, die uns so vermittelt wird. Weiter so!
Comments are closed.