Ein sehr ausgewogenes Kräfteverhältnis bot der Tourenwagen-Weltcup bei der Rückkehr in die Häuserschluchten der Stadt Pau in Südfrankreich!
Bereits in der Qualifikation wurde das qualitativ eng zusammenliegende Feld deutlich, in dem mal eben 17 Fahrzeuge in einer Sekunde waren, was somit allen Stammfahrern entsprach. Erfahrungen auf dem anspruchsvollen Stadtkurs hatten lediglich erfahrene WTCC Piloten wie Yvan Muller, Tom Coronel, Tiago Monteiro, Mehdi Bennani oder Rob Huff.
Der Samstag war in Pau wie immer geprägt von einigen Verschiebungen im Zeitplan, vor allem wegen Unfällen in den diversen Rahmenserien. Die WTCR gab hierbei ein recht humanes Bild ab, indem es nur in der Lynk & Co. Mannschaft zu gröberen Zwischenfällen kam. Yann Ehrlacher schlug bereits in den Trainings in die Leitplanke ein, was jedoch keine Folgen für die Qualifikation hatte. Für den gröbsten Zwischenfall des Tages sorgte Thed Björk im zweiten Qualy-Segment, wo nach einem harten Einschlag ein großes Loch in der Leitplanke war. Zudem sorgte zuvor in Q2 Norbert Michelisz für einen leichten Einschlag im Reifenstapel, was eine Full Course Yellow nach sich zog und einige Akteure in Zeitprobleme brachte. Wegen dem dichten Verkehr am Ende des Segments waren die Zeiten meistens schon früh gesetzt und es wurden bereits die ersten Entscheidungen für die Startaufstellungen gefällt.
Durch die Plätze sechs bis zehn ergab sich bereits die Reversed Grid Aufstellung für Rennen 2 des Sonntags mit Norbert Michelisz, vor Attila Tassi, Mikel Azcona, Santiago Urrutia und Yann Ehrlacher. In das Top5 Shooutout schafften es zwei Honda, zwei Lynk & Co. und ein Audi. Spätestens in Q3 wurden die Probleme der neuen Gewichtsregel klar aufgezeigt!
Wie bereits in der Vorschau geschrieben, entscheiden nun nicht mehr die durchschnittlichen Rundenzeiten über die Performance-Gewichte für die nächsten Wochenenden, sondern die besten Zeiten der Qualifikation. Unweigerlich werden die neuen Anpassungen wohl dazu führen, dass man bewusst nicht auf die Pole fahren möchte, sondern eher Plätze zwischen 4 und 10 das Ziel sein werden, da das zweite Rennen als Reversed Grid zwar weniger Punkte beinhaltet, aber immer noch genug, um ein schwächeres Ergebnis aus Lauf 1 zu kompensieren.
So sicherten sich „überraschend“ deutlich, Nestor Girolami und Esteban Guerrieri die Doppelpole für die ALL-INKL.COM-Mannschaft. Schnell wich die Freude in den Interviews der beiden der Gewissheit über die 40-Kilo-Bürde für die nächste Veranstaltung am Nürburgring! Für WTCR-Verhältnisse deklassierten sie förmlich die Konkurrenz von Lynk & Co. rund um Yvan Muller und Ma Qinghua auf P3 und P5, während Nathanael Berthon der einzige Lichtblick für Audi am ganzen Wochenende auf P4 war. Die Thematik, dass eigentlich niemand die Pole möchte, war bereits in der Vergangenheit in der TCR Germany deutlich geworden. Hier bleibt es ein Rätsel, wieso die zwar oft schwer zu verstehende, aber sportlich faire Regel, die durchschnittlichen Rundenzeiten als Referenz zu nehmen, abgeschafft wurde.
Charakteristisch für die Hondas war die ruhige Lage der Autos ohne Rutscher und Ungenauigkeiten, während vor allem die Lynk & Co.-Fahrzeuge deutlich unruhiger wirkten. Für die Cupra und restlichen Audi-Piloten war bereits nach Q1 mit den Plätzen 13-18 Schluss, was der Startaufstellung für beide Rennen entspricht. Tendenziell wurden die Hondas mit den kühleren Temperatoren am frühen Abend eher schneller, während Lynk offenbar den „Peak“ bei den warmen Mittagstemperatoren hatte. Mit diesen Ausgangslagen ging es nun am Sonntag in die beiden Rennen.
Rennen 1
Nachdem in den letzten Jahren immer das erste Rennen das Reversed-Grid-Rennen mit kürzeren Distanzen war, ist es nun genau umgekehrt. Somit dürfte im Saisonverlauf das erste Rennen generell das etwas zivilere und ruhige Rennen werden, was Crashpotenzial und Überholaction angeht. Die Reparaturpause wurde zwar aufs zweite Rennen verlängert, dennoch lautet das Kredo bei den meisten: „Hauptsache ankommen und keinen Blödsinn machen.“
Somit wurde das Rennen nach einem Start ohne größere Vorkommnisse zu einem sehr ruhigen mit dem üblichen Hinterherfahren auf Stadtkursen, auch wenn sich in Pau sicher mehr Überholstellen auftun als beispielsweise in Monaco.
Honda konnte die Teamtaktik perfekt ausspielen und Nestor Girolami und Esteban Guerrieri gingen nach gutem Start ungefährdet in Führung. Girolami konnte sich einen beruhigenden Vorsprung herausfahren, dahinter blieb das Feld jedoch eng beisammen und alle belauerten sich gegenseitig. Den Bann konnte der am ganzen Wochenende überraschend stark auffahrende Ma Qinghua brechen, indem er in der engen Spitzkehre an Attila Tassi im Honda vorbeiging und zwei weitere mit Azcona und Urrutia mitziehen konnten.
Bei Lynk & Co. zog sich durch beide Rennen das starke Teamwork durch, was die Mannschaft über Jahre auch so erfolgreich macht. Der Ablauf: „Wenn einer überholt, kann der andere Teamkollege mitziehen“, wurde in den beiden Rennen mehrfach erfolgreich exerziert! Alle Fahrer wirken sehr homogen, mal abgesehen von Thed Björk, der wohl auch wegen dem neu aufgebauten Auto nach dem Crash in der Qualifikation recht deutlich abfiel zum Rest und im ersten Rennen ausfiel.
Die aufregendste Situation ergab sich kurz vor Schluss, als ein Zweikampf ums Podium zwischen Yvan Muller und Nathanael Berthon entbrannte. Ohnehin gab Berthon schon vorm Wochenende zum Ausdruck, dass er nicht mehr der Brave in der WTCR sein will! Von den Kameras unbeobachtet fehlte an seinem Audi RS3 plötzlich ein Teil des Kotflügels. Daraufhin konnten sich zunächst Yann Ehrlacher und sein Kollege Ma vorbeidrücken, wonach es einen Auffahrunfall von Mikel Azcona auf Berthon gab, der seinerseits einen Reifenschaden davontrug. Auch Attila Tassi war in die Rauferei verstrickt, der mit flatterndem Unterboden an die Box kam. Zumindest in diesen Situationen war es Pau, wie man es aus vielen Jahren kannte!
Am Rennende waren es nach 23 Runden Girolami vor Guerrieri, Muller, Ehrlacher, Ma, Azcona, Urrutia, Magnus, Michelisz, Bennani, Coronel, Huff und Nagy als die Klassierten. Viele Platzwechsel gab es also nicht und allzu viele Reparaturen mussten auch nicht vorgenommen werden, da es sich um normale Blechschäden handelte. Enttäuschungen waren wie schon in der Qualifikation mannschaftlich die Audis und Cupras. Eine Besonderheit gab es bei Hyundai, wo Mikel Azcona nach seinem Wechsel der Beste im Team war, was im zweiten Rennen noch wichtig werden sollte.
Rennen 2
In der gesamten Saison wird man wohl im zweiten Lauf die große Action erwarten dürfen. In vielen Punkten traf dies definitiv auch zu!
Das Rennen begann schon wenige Meter nach dem Start sehr brenzlig, indem Norbert Michelisz von der Pole gestartet, Attila Tassi im Honda den Weg abschneiden wollte und er überraschend stark nach rechts zog und er somit Tassi vor die Räder fuhr. Ein ziemlich dummer Fehler, der einem Michelisz mit seiner Erfahrung nicht passieren sollte. Wie durch ein Wunder, waren kaum weitere Fahrzeuge betroffen, obwohl die Fahrbahn an dieser Stelle gefühlt geschlossen war durch die beiden kollidierten Autos. Schnell hätte es hier zu Szenen wie in Macau kommen können. Die großen Pechvögel waren durch die Kollision Gilles Magnus und Mehdi Bennani, die beide Reparaturen an der Box vornehmen mussten, was zum Gesamtauftritt von Audi irgendwie passte.
Beim Restart hatte nun Mikel Azcona einiges zu tun, da er nun drei der „Blue Boys“ von Lynk & Co. hinter sich halten musste. Überraschend konnte er sich nach wenigen Runden einen großen Vorsprung herausfahren. Als Gewinner des Starts könnte man auch Rob Huff bezeichnen, der seine gute Form im komplett weißen Cupra auf Stadtkursen zeigte. Nicht umsonst spricht man bei ihm von „Mr. Macau“. Da Cupra (Zengo) nun doch in der Privatfahrerwertung (WTCR Trophy) startet, ist Huff vor allem für diese Sonderwertung ein wichtiger Zugewinn.
Einen ungeplanten Stopp musste Yann Ehrlacher machen, bei dem es nach einem Reifenschaden aussah. Da es jedoch Punkte bis P15 gibt und es schon die Ausfälle gab, hat man ihn gleich wieder rausgeschickt. Dadurch konnte sein Teamkollege Ma die Sensation perfekt machen und bei seinem internationalen Comeback aufs Podium fahren. In der Saisonvorschau hatte ich ihn noch als „Wasserträger“ abgestempelt, aber er zeigt, dass nun auch die chinesische Motorsportszene immer mehr Aufschwung erfährt.
So turbulent der Rennauftakt war, so zivilisiert verlief das Rennen im Anschluss. Auffällig: Im Vergleich zum ersten Rennen waren die Abstände deutlich größer und richtig harte Platzduelle waren nicht möglich.
Eine Lanze muss man auch mal für den fast 60-jährigen Eric Cayrolle brechen, der sich das ganze Wochenende aus allen Problemen rausgehalten hat und sogar am Ende des Feldes mit den Stammfahrern recht gut mithalten konnte!
Somit konnte Mikel Azcona bei seinem erst zweiten Rennen für den koreanischen Hersteller gleich den Sieg einfahren vor der blauen Armada mit Santiago Urrutia, Ma Qinghua, Nathanael Berthon, Esteban Guerrieri, Yvan Muller, Nestor Girolami, Rob Huff, Thed Björk und Tiago Monteiro in den Top 10.
Huff wurde somit WTCR Trophy Sieger, die nun aus zwei Cupra und zwei Audi besteht.
Zusammenfassung und Ausblick
Insgesamt könnten sich bei den Herstellern bereits jetzt spannende Konstellationen ergeben, die einige der etablierten Fahrer wohl nicht gefallen könnte. Die Erfahrung der letzten Jahre hat klar gezeigt, dass in der WTCR die Hersteller oft sehr früh einen oder höchstens zwei Fahrer des Herstellers auf den Titel ansetzen. Vor allem ist es vorstellbar, dass Ehrlacher bei Lynk und Michelisz bei Hyundai ein Problem bekommen könnten. Bei Lynk & Co. ist keine Dominanz der beiden Elsässer zu sehen und auch Urrutia scheint nochmal einen Schritt gemacht zu haben. Über die Überraschung von Ma hatte ich schon geschrieben.
Michelisz dürfte mit Azcona bei Hyundai ebenfalls eine sehr harte Nuss im Team haben. Hier darf man gespannt sein, welche Taktik der „Jungteamchef“ Gabriele Tarquini anwenden wird.
Die ALL-INKL.COM Mannschaft geht durch den großen Schluck aus der Punktepulle mit deutlichem Vorsprung ins zweite Wochenende. Auffallend allerdings, dass das Liqui Moly Team Engstler diese gute Performance gar nicht mitnehmen konnte. Tassi war in die Kollision im ersten Rennen verwickelt und bei Tiago Monteiro muss man sich langsam Sorgen machen, ob der Abstand auf die restlichen Teamkollegen nicht zu groß wird. Somit befindet sich nun ALL-INKL.COM auf dem ersten und das Engstler Team auf dem letzten Platz in der Teamwertung.
Die BOP-Anpassungen am Nürburgring mit der komplett anderen Streckencharakteristik dürften das Kräfteverhältnis nochmal ordentlich durchspülen. U.a. hat Audi dort mit dem Motto „Länge läuft“ und ihrem langen Radstand immer gut ausgesehen. Falls der ein oder andere Leser am letzten Mai Wochenende vor Ort ist, sollt man sich die WTCR nicht entgehen lassen! Immer wieder faszinierend, wie die über 300 PS Tourenwagen über die Bodenwellen federn und das alles ohne ABS und sonstige Spielchen, getreu dem Motto: „Real cars, real racing!“
Bildquellen: WTCR Galleries (https://www.fiawtcr.com/photos/?fid=1736-wtcr-race-of-france-2022)
2 Kommentare
Danke für den ausführlichen Bericht! Besonders lesenwert da es von beiden Rennen gefühlt keine bewegten Bilder gibt…
Vielen Dank! Ja, die TV Verbreitung von Eurosport ist echt ein Ärgernis und tut der Rennserie alles andere als gut. Aber kleiner Tipp: Man zeigt in der Regel alle Läufe auch auf Eurosport 1 in der Wiederholung, zumindest Montags oder Dienstags. Zudem gibt es immer Dienstags Abends die Magazinsendung mit den Zusammenfassungen der beiden Läufe. Ganz ohne Free TV ist es also auch in Deutschland nicht. Livebilder im Free TV wird es leider auch die nächsten Rennen eher keine geben. Die beiden Nürburgringlaufe wird man wohl sogar auf beiden Sendern nicht live sehen können, was wirklich für dieses Top Event ein Unding ist.
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