Der Doubelheader-ePrix hat London hat die Vorentscheidung gebracht: während Stoffel Vandoorne im Mercedes zweimal stark punktete, erlebten seine drei Kontrahenten ein rabenschwarzes Wochenende. Rechnerisch können bei noch 58 maximal einzufahrenden Punkten zwar auch Mitch Evans und Edoardo Mortara noch Meister werden, aber die Wahrscheinlichkeit für so einen massiven Umschwung ist doch sehr gering. Doch die Strecke in Seoul ist für alle Teams und Piloten neu, sodass Überraschungen durchaus drin sein können. Der Saisonabschluss ist zugleich ein wichtiger Meilenstein für die Rennserie: es ist das 100. Rennen der Formula E.
Rückblick auf den London ePrix
Die Überraschung des London-Wochenendes war für mich Jake Dennis. Der war zwar letztes Jahr beim London ePrix bereits stark und fuhr einen Sieg ein, aber ich hatte absolut nicht damit gerechnet, dass er dieses Resultat im Avalanche-Andretti würde wiederholen können. Doch anscheinend liegt dem britischen Piloten seine Heimstrecke mit ihrer Kombination aus Drinnen und Draußen – Halle und Parkplatz – ganz besonders. So konnte er für das Team, das bisher in diesem Jahr nur einen einzelnen dritten Platz als Top-Resultat zu Buche stehen hat, zwei Poles, einen Sieg und einen zweiten Platz holen. Und damit bescherte er auch BMW als eigentlich schon ausgestiegenem Antriebsstrang-Lieferanten noch einen allerletzten Sieg.
Schon ein paarmal hatte Dennis in den Rennen diese Saison gut gelegen, aber dafür hatte er meist mehr Energie aufwenden müssen als die Konkurrenz, sodass er diese in der Schlussphase nicht hinter sich halten konnte. Im ersten London-Lauf passte allerdings alles: von der Pole aus ging der Brite in Führung und konnte diese auch bis ins Ziel behaupten. Auch der hinter ihm gestartete Stoffel Vandoorne konnte seinen 2. Platz vom Start bis ins Ziel bringen, was sich als wichtiger Schritt auf dem Weg zum Titel erweisen könnte.
Seine drei Konkurrenten hatten es allesamt nicht in die Knockout-Qualifikation geschafft und starteten im Mittelfeld: Edoardo Mortara auf Platz 9, Jean-Eric Vergne auf Platz 13 und Mitch Evans auf Platz 14. Und schon in der engen ersten Kurvenkombination ging es genau in diesem Bereich hoch her: Birds Jaguar wurde von Mortara und Vergne auf die Hörner genommen und blieb wenige Meter später stehen; Mortara verlor seine Frontpartie. Für beide Titelanwärter war das Rennen gelaufen, auch Vergne kam außerhalb der Punkte ins Ziel. Nyck de Vries wurde auf der Strecke Dritter hinter seinem Teamkollegen, wurde aber wegen eines überharten Verteidigungsmanövers gegen Nick Cassidy kurz vor Schluss nachträglich mit einer 5 Sekunden-Strafe belegt.
Der zweite Lauf war deutlich spannender und für den von wieder von der Pole startenden Dennis eine große Herausforderung. Auch hier gab es einen Startcrash im Mittelfeld: auf schmaler, abschüssiger Strecke nach der Ausfahrt aus der Halle wurde Oliver Rowland von Oliver Askew unabsichtlich zwischen dessen Auto und der Wand eingeklemmt. Er stieg mit der Front auf, demolierte bei der Landung seine Vorderradaufhängung und touchierte nach Askew noch Jean-Eric Vergne. Der vormalige Meisterschaftsanwärter rollte wenige Minuten später aus, damit ist die Chance auf einen dritten Titel für ihn beinahe Geschichte.
An der Spitze lieferten sich Jake Dennis, Lucas di Grassi und Nyck de Vries, dem diese Strecke auch sehr zu liegen scheint, ein enges Rennen. Jeder Fahrer musste in diesem Lauf dreimal den Attack Mode einsetzen – und die Fahrer bzw. ihre Team-Strategen hatten hier unterschiedliche Herangehensweisen, was das Rennen sehr spannend und abwechslungsreich machte. Zehn Minuten vor Schluss führte Dennis, musste aber noch einmal von der Ideallinie weg, um seinen dritten Attack Mode zu aktivieren. Aber di Grassi im Venturi war taktisch cleverer vorgegangen und hing ihm dicht im Heck. Dennis verlor die Führung und di Grassi schaffte es, sich die nächsten vier Minuten lang fair gegen den Briten im Andretti-BMW mit Extra-Power zu verteidigen. Nachdem er das geschafft hatte, war es ein Leichtes, auch bis zum Rennende vorn zu bleiben.
Es war der erste Saisonsieg für das FE-Urgestein aus Brasilien, und ein sehr verdienter dazu. Ein anderes Urgestein hatte großes Pech: Sam Bird zog sich bei einem Zwischenfall am Start des Sonntags-Rennens eine gebrochene Hand zu. Das Rennen brachte er zwar sogar in den Punkten zu Ende (P8), aber nach dem Finish wurde die Verletzung identifiziert. Er muss daher in Seoul aussetzen; für den Briten wird Norman Nato den Jaguar beim Finale pilotieren. Es wird das erste FE-Rennwochenende ohne Sam Bird sein, der – wie di Grassi – von Anfang an dabei war und am Sonntag in Seoul sein 100. Rennen hätte feiern können. Das muss er nun auf nächstes Jahr verschieben. Auch wenn die aktuelle Saison seine bisher schwächste (und die erste ohne Sieg in der Serie) war, wird er 2023 weiter zusammen mit Mitch Evans für Jaguar an den Start gehen.
Dieser Mitch Evans gehörte auch zu den Pechvögeln des zweiten London-Laufs: er lag nach Start auf P14 im letzten Renndrittel auf einem starken vierten Platz, womit er den Rückstand auf den direkt dahinter liegenden Stoffel Vandoorne hätte verkürzen können. Doch dann entwickelte sein Jaguar schleichend eine Brems-Problematik, die immer schlimmer wurde. So parkte Evans dann das Auto zunächst in der Auslaufzone, ging dann zwar nochmal auf die Strecke, aber musste schließlich aufgeben und das Wochenende punktelos beenden.
Der WM-Stand nach London
Nach diesen Ereignissen stellt sich der WM-Stand vor dem Finale – bei noch maximal 58 zu holenden Punkten (25 pro Rennsieg, 3 pro Pole, 1 pro schnellste Rennrunde) – wie folgt dar (Saisonverlauf hier):
- Stoffel Vandoorne (Mercedes) – 185 Punkte
- Mitch Evans (Jaguar) – 149 Punkte (-36 Punkte)
- Edoardo Mortara (Venturi-Mercedes) – 144 Punkte (-41 Punkte)
- Jean-Eric Vergne (DS Techeetah) – 128 Punkte (-57 Punkte)
- Antonio Felix da Costa (DS Techeetah) – 116 Punkte (nicht im Titelrennen)
Auch in der Teamwertung hat Mercedes einen ordentlichen Vorsprung, aber sollten sie ein ganz schlechtes Wochenende erwischen, kann sich auch hier noch etwas bewegen; den Verlauf der Top 4 kann man sich hier ansehen. Sieben Teams konnten in der Saison insgesamt Siege einfahren. Trotz des neuen Quali-Modus, der Erfolg nicht ehr so stark bestraft, war die Saison wieder abwechslungsreich, aber eben nicht mehr ganz so wild durcheinander gewürfelt wie in den letzten Jahren:
- Mercedes – 291 Punkte (3 Rennsiege)
- Venturi-Mercedes – 255 Punkte (4 Siege)
- DS Techeetah – 244 Punkte (1 Sieg)
- Jaguar – 200 Punkte (3 Siege)
- Envision-Audi – 172 Punkte (1 Sieg)
- Porsche – 128 Punkte (1 Sieg)
- Andretti-BMW – 112 Punkte (1 Sieg)
Die übrigen Teams (Nissan-e.dams, Mahindra, NIO333 und Dragon-Penske) sind sieglos geblieben und haben auch punktemäßig einen deutlichen Rückstand auf Andretti.
Vorschau Seoul ePrix
Nun geht es also nach Seoul. Der ePrix in der südkoreanischen Hauptstadt war auch bereits länger geplant und wurde wegen der Pandemie verschoben. Klar war, dass sich das Rennen im Umfeld des Olympiastadions abspielen sollte, und dass es auch in das Stadion hinein gehen sollte. Je nachdem, wie viel Publikum im Stadion ist, kann das atmosphärisch ganz schön werden, auch wenn keine Party im Stile des Foro Sol in Mexico City zu erwarten ist. Die Attack Mode Activation Zone ist wie in Mexico auch hier im Stadion platziert.
Die Führung der Strecke in das Stadion hinein – und wieder heraus – bringt allerdings einige enge Passagen sowie hakelige Kurven mit sich, da natürlich die Geschwindigkeiten hier gering gehalten werden müssen. Im Stadion selbst wird aber kein enger Parcours im Stile eines „Race of Champions“ gefahren, sondern eine unregelmäßige Ovalrunde, die durchaus interessant sein könnte. Die Überholmöglichkeiten finden sich dann aber draußen, wo die Strecke auf mehrspurigen Straßen um Schwimm- und Sporthalle herum geführt wird. Dieser Streckenteil erinnert ein wenig an den allerersten ePrix in Beijing, allerdings ist diese Strecke in der Summe mit 2,6 km deutlich kürzer.
Die beste Überholmöglichkeit dürfte sich in der eng gestalteten Zielkurve (Turn 22) ergeben. Diese ist gleichzeitig die erste Kurve nach dem Rennstart, denn dieser erfolgt auf der Gerade am Ende der Runde, und nicht auf der nachfolgenden Zielgerade, wo auch die Boxengasse angeordnet ist. In Runde 1 dürfte die erste Einfahrt ins Stadion mit den voraussichtlich engen Kurven 1-7 einen neuralgischen Punkt darstellen, in denen es zu dem einen oder anderen Tête-à-Tête kommen könnte, möglicherweise mit Blechschäden, wie in den Startphasen in London. (Bilder von der Strecke gibt es hier und hier.)
Hohe Temperaturen stellen eine weitere Herausforderung dar, vor allem was das Temperaturmanagement der Batterien angeht. Das hat sich bereits beim Jakarta ePrix vor einigen Monaten gezeigt. Für das Wochenende in Seoul sind zudem hohe Regenwahrscheinlichkeiten prognostiziert, was für zusätzliches Durcheinander sorgen könnte. Die Rennen starten am Samstag und am Sonntag jeweils um 9 Uhr MESZ. Pro 7 (ab 08:30 Uhr) und Eurosport 2 (ab 08:50 Uhr, vorher Quali-Aufzeichnung ab 8 Uhr) übertragen live.
(Bilder: Formula E Media)