Die „Normalität“ ist zurück und mit ihr das Gute, Schlechte und Absurde des Rennsports. Während in meinen letzten zwei Jahresrückblicken emotional angeheiterte Fragen über die Liebe sowie die berufliche Distanz zum Kreisfahren im Vordergrund standen, soll es heuer wieder (etwas) technokratischer zugehen – wenn auch glücklicherweise gewohnt unseriös. Was gewesen ist, was kommen wird und was mir jetzt schon fehlt.
Auf einmal war da dieser irritierende Moment der Stille: Die größte Hektik, die mir bislang in meinem Leben untergekommen war, stoppte nahezu auf einen Schlag. Nur kurz davor hatten die angespannt durch die Reihen eilenden Menschen in ihren bunten Anzügen endlich ihr Ziel gefunden. Dann fügte sich eine kleine Konstruktion samt Band zu einer Art Bühne zusammen. Und abschließend wurde aus dem dröhnenden Gemurmel von 300.000 Menschen ein Schweigen, von dem jede fallende Stecknadel nur träumen kann. Das Vorprogramm des diesjährigen Indy 500 war an seinem zeremoniellen Höhepunkt angelangt.
Für mich schloss sich in exakt diesem Moment ein fast dreijähriger Kreis, der im Laufe der Pandemie stark seinen Charakter verändert hatte. Ursprünglich wollte ich mich als Fan auf die in Würde gealterten Tribünen des Indianapolis Motor Speedway setzen. Schlussendlich durfte ich sogar in das Pressezentrum – mein wohl größter beruflicher Moment bisher. Warum diese lange Hinführung? Weil wohl jeder von uns diese Art von Moment heuer erlebt haben dürfte. Sei es die lang ersehnte Rückkehr an die heimische Rennstrecke, vielleicht wie bei mir das Antreten einer aufgeschobenen Reise oder gar der Weg zurück hinter das Lenkrad bzw. den Lenker des eigenen Renngefährts. Hauptsache: Back Home Again in Indiana.
Neuer Wein in alten Schläuchen
Abseits dieser Momente fühlte sich das Sport-Jahr 2022 – ganz im Gegensatz zur grimmigen weltpolitischen Lage – schnell erstaunlich normal an. In der Formel 1 fuhr Max Verstappen auf Mercedes-eske Weise seinen zweiten Titel ein, und ließ dabei die wenig charmante Attitüde eines mehrfachen Champions raus. In der WEC staubte Toyota zum letzten Mal vor dem leeren Tor ab. Und in der IndyCar (Will Power) sowie der NASCAR (Joey Logano) war es das Team Penske, das abräumte – bis auf beim Indy 500 (Marcus Ericsson – Chip Ganassi Racing), aber das ist ja mittlerweile tragische Tradition. Rein auf dem Papier war bei den großen Serien hier im Blog eher selten herausragend Überraschendes zu lesen. Dasselbe könnte man ebenso beim Blick auf die Abschluss-Klassements der Formel E, der IMSA, diverser GT-Serien oder auch der Supercars denken.
Technisch und politisch war die Saison 2022 hingegen garantiert alles andere als „Dienst nach Vorschrift“. So startete allen voran die Formel 1 mit ihren neuen Ground-Effect-Rennern endlich in ein neues Zeitalter, das sie mit dem Budget Cap finanziell absichert. Wie so häufig bei Regel-Revolutionen war der Auftakt teils von größeren Abständen geprägt. Die Mischung aus sehr sensiblen und eng gesetzten Entwicklungsfeldern und den dazugehörigen monetären Fesseln verspricht zumindest auf längere Sicht jedoch wieder Umstände wie im Jahr 2021. Über die genauen Gewinner und Verlierer der Saison erfahrt Ihr reichlich in Dons Teamrückblicken der letzten Tage. Nur so viel noch zum Jahr 2022: Solltet Ihr einen Jobwechsel für 2023 anstreben, sei von Red Bulls Buchhaltung, der Strategieabteilung von Ferrari und der FIA-Rennleitung strengstens abgeraten.
Während die Königsklasse im Moment auf der Netflix-Erfolgswelle surft und neue Hersteller anlockt, zeichnen sich in der Ferne trotz alledem Herausforderungen ab. Das beste Beispiel ist der massiv eskalierende Kalender, für den die Macher rund um Stefano Domenicali die hehren Umwelt-Ziele schneller fallen ließen als Andreas Seidl seinen McLaren-Kontrakt – oder Oscar Piastri seinen bei Alpine. Die Neuzugänge versprechen zwar eine fixe Finanzspritze, doch ob die meisten Events auch in Zukunft Bestand haben, darf sicher angezweifelt werden. Dazu wirken die Versprechungen eines zeitgeistigen Politik-Verständnisses so weit entfernt wie Ferraris Erfolg zu Saisonbeginn. Dass Sebastian Vettel ausgerechnet jetzt seine Karriere beendet hat und die jüngste FIA-Direktive gegen politische Statements wie eine harte Antwort auf Lewis Hamiltons wichtiges Engagement wirkt, lässt die Formel 1 wieder erschreckend altmodisch aussehen.
Zurück in die Zukunft
Einen ähnlichen Neuaufbau erlebt im Moment auch die NASCAR. Mit der Next Gen, die aus vielen kostensparenden Einheitsbauteilen besteht, beendete sie im Cup die teils ausartenden Materialschlachten der Spitzenteams. Obwohl es einige besorgniserregende Verletzungen gab (insbesondere Kurt Busch und Alex Bowman), scheint das neue Auto-Format dem Sport gutgetan zu haben und Potenzial für noch mehr Action zu bieten. Das wird auch bei den Ticketverkäufen belohnt, bei denen die NASCAR so gut und divers wie seit vielen Jahren nicht mehr dasteht. Das passende Symbol für die Auffrischungskur lieferte Ross Chastain in Martinsville, als er dank des standfesteren Next-Gen-Camaro das junge Trackhouse Racing in den Playoff-Endspurt katapultierte. Für den Stockcar-Verband gilt es, diesen Aufwind nun mitzunehmen und die begonnenen Kampagnen weiter voranzutreiben. Unter anderem gilt das Le-Mans-Projekt als Vorbote für die anstehende Hybridisierung der amerikanischen Top-Meisterschaft.
Bleiben wir direkt in der Familie: Obwohl die IMSA erst 2023 richtig durchstarten will, war 2022 viel mehr als ein Übergangsjahr. Zum einen glückte die Etablierung der GTD-Pro-Klasse auf Anhieb, zum anderen verabschiedete sich die DPi über die Saison weg mehr als stilecht. Ihre Hauptakteure – darunter die Rolex24-Sieger und Meister von Meyer Shank Racing – waren jedoch immer mit dem zweiten Gedanken bereits bei den neuen LMDh-Autos. Hierzu die obligatorische Kurzzusammenfassung: Ab der kommenden Saison sind sowohl in der WEC als auch in der IMSA-Sportwagenmeisterschaft mit der LMH und der LMDh zwei Auto-Konzepte in der jeweils höchsten Division zugelassen. Die bereits aus der WEC bekannten Hypercar (LMH) haben bei der Konstruktion diverse Freiheiten, bei der LMDh gibt es hingegen zahlreiche, zur Kostenkontrolle vorgeschriebene Einheitsbauteile – darunter das Chassis im LMP2-Format, Aufhängungen und der Hybrid-Zusatz. Während in der WEC die bestätigten LMHler Ferrari, Peugeot und Toyota (außerdem möglich: Glickenhaus, Isotta Fraschini und Kolles) auf die LMDhler Porsche und Cadillac treffen, ist die Lage bei der IMSA anders. Dort gehen im Debütjahr ausschließlich LMDh-Autos von Acura, BMW, Cadillac und Porsche an den Start.
Acura verpasst die 100-Jahre-Feier in Le Mans wohl durch eine fehlende Freigabe des Mutterkonzerns Honda, BMW will sich wegen des zeitlichen Rückstands erst auf die IMSA fokussieren. Mit BMW reisen 2024 dann auch Alpine und Lamborghini an die Sarthe. Der zweite Teil der Reglements-Revolution folgt in ebendiesem Jahr, wenn GT3-Autos in der WM und damit in Le Mans Einzug halten. Die GT3-Newcomer Corvette und Mustang fungieren passend als Krönungsgeschenk und finden hoffentlich schnell ihren Weg in die ADAC-DTM und auf die heuer kriselnde Nordschleife.
Die ersten LMDh-Eindrücke gab es bereits im abgelaufenen Jahr zu hören und zu sehen. In Sachen Optik ging der Plan der IMSA-Macher als Begründer des Formats komplett auf. Denn über Geschmack lässt sich zwar bekanntlich streiten, aber alle Modelle haben ihre eigene Identität. Technisch bereitet der Mix aus eigener Hand und Einheitsversand hingegen schwere Kopfschmerzen. Ähnlich wie bei der neuen Formel-E-Generation plagten massive Ausdauer-Schwierigkeiten und Lieferengpässe die Vorbereitungen. Für Daytona wird bereits gewitzelt, dass sich die erneut eingebremsten LMP2 mit einem Abstaubersieg rächen werden. Dank des späteren Starts der WM in Sebring gibt es hier mehr Hoffnung auf ein schnelles Aussortieren der restlichen Probleme. So oder so: Das neue Sportwagen-Jahr geizt nicht mit Vorab-Spannung.
Sorgenkinder vom Bahnhof Indy
Viele Serien wurden also im Zuge der letzten beiden Weihnachtfeste mit reichlich neuem Material beschenkt – hierbei sollten auch die sich stets erneuernde Super GT, die Hybrid-BTCC, die fleißig vorbereitende Super Formula und die kommende Supercars-Gen wohlwollend erwähnt werden. Nur die schlechte Art von Kohle fanden hingegen die eingestampfte WTCR und die Histo-Serie IndyCar in ihren löchrigen Socken. Warum Histo? Das DW12-Chassis wurde heuer zehn Jahre alt, der erneut verlängerte 2,2-Liter-Biturbo-V6 ist ebenfalls im besten Vintage-Serien-Alter. Der Grund für die massive Stagnation ist ambivalent: Die Austeritätspolitik von Penske Entertainment zementiert zwar den sportlichen Boom und die Kosten, aber lässt die IndyCar katastrophal hinter die heimische und internationale Konkurrenz zurückfallen. Der Captain nimmt sich im Zuge der Neujahrsfeiern hoffentlich etwas Zeit zum Reflektieren. Denn eines zeigte sich im Jahr 2022 besonders deutlich: Wer sich in Zeiten von ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit eine Zukunft ausmalen will, muss zuerst in Pinsel und Farbe investieren.
Und mit diesem avantgardistischen Aquarell möchte ich Euch nun aus der Metabene heraus und in den Jahreswechsel hinein entlassen. Ich wünsche Euch einen saftigen Dirt-Track-Slide in das neue Jahr sowie Euch und Euren Familien ein gesundes, stabiles 2023. Wir sehen uns – im besten Fall an der Strecke!
Bilderquelle / Copyright: IndyCar, Michelin Racing USA, Porsche