In einem wilden Rennen am Samstagabend hat der Brite Jake Dennis genügend Punkte holen können, um den Fahrer-WM-Titel schon vor dem letzten Lauf sicher zu haben. Dazu hat aber auch das Envision-Team einen ordentlichen Beitrag geleistet. Trotzdem gelang es dieser Mannschaft, am Sonntag auf nasser Strecke den Team-Titel zu holen und damit das Jaguar-Werksteam, das mit gleicher Technik unterwegs war, zu schlagen.
Mitch Evans und Nick Cassidy hatten vor dem Wochenende noch eine Chance, Dennis den Titel streitig zu machen – und beide taten zunächst das, was nötig war, um diese Chance aufrecht zu erhalten: Sie gewannen ihre Quali-Duelle bis ins Finale. Hier behielt Evans die Oberhand, auf den aber noch eine 5 Startplätze-Strafe wegen eines Crashes in Rom zukam. Dennis hatte sein Halbfinal-Duell gegen Evans um vier Zehntel verloren, rückte aber dadurch trotzdem in die erste Startreihe vor. Cassidys Teamkollege Buemi patzte im Quali-Halbfinale, ging aber als Dritter ins Rennen, sodass Cassidy einen Wingman in seiner Nähe hatte.
Das klappte auch zunächst gut, beide arbeiteten als Team, nachdem Buemi sich im Kurvengeschlängel nach dem Start am vorsichtigen Dennis vorbeidrücken konnte. Buemi hielt danach Dennis etwas auf, sodass Cassidy ohne Platzverlust seinen ersten Attack Mode aktivieren konnte. Hinter dem ausgebremsten Dennis staute es sich dagegen und der patzte dann auch gleich zweimal und verpasste die Aktivierungsschleifen für den Attack Mode, weil er zu viel Abstand zur Wand hielt. Damit verlor er Plätze, ohne den Vorteil zu haben. Unter anderem kam auch Mitch Evans an ihm vorbei, der es dann auch schaffte, die Führung zu übernehmen, als beide Envisions sich den Attack Mode holten.
Dann aber begann die Verwirrung beim Envision-Team: Anstatt dass Buemi seinen Teamkollegen Cassidy nach vorn ließ und ihn von hinten gegen Dennis beschützte, kämpfte er nach vorn gegen Mitch Evans. Dadurch geriet Cassidy in Bedrängnis und als Dennis sich in einem mutigen Manöver vorbeidrängte, fuhr auch gleich noch Rene Rast im McLaren mit vorbei. Rast stürmte sogar auf Platz 2 nach vorn. Dahinter bremste Buemi Dennis aus, sodass Cassidy sich an seinem Kontrahenten wieder vorbeischieben konnte.
Nun hatte Envision das zweite Mal die Chance, seine Piloten zum Platztausch zu bewegen – und wieder kam keine klare Ansage, wie beide hinterher im Interview sagten. Stattdessen versuchte es Cassidy auf eigene Faust – doch Buemi hielt dagegen, warum auch immer, und es kam zur Berührung, die Nick Cassidy seinen Frontflügel und damit alle Titelchancen kostete. Beinahe gleichzeitig drängte Rast Pascal Wehrlein ins Aus und Sacha Fenestraz stieg über das Heck von Dan Ticktum auf und flog ungebremst in die Mauer – die Rennleitung musste die rote Flagge schwenken. Fenestraz war in Ordnung, aber die Barrieren mussten neu arrangiert werden.
In den fliegenden Neustart ging es in Runde 33 mit der Reihenfolge Evans-Buemi-da Costa-Dennis-Nato, aber schon in Runde 35 war wieder rot. Buemi hatte zwei Plätze verloren und versuchte verzweifelt, sich gegen Nato zu wehren, beide verkeilten sich an der Einfahrt in die Messehalle ineinander und blockierten die Strecke für den Rest des Feldes. Nur die ersten drei waren bereits durch. Die Rennleitung musste die Situation sortieren, bevor das Rennen für die letzten paar Runden mit dem Führungstrio Evans-da Costa-Dennis noch einmal neu gestartet werden konnte.
Und dann kam, kurz vor Zieldurchfahrt, die Nachricht, dass bei da Costa vorm Restart ein zu niedriger Reifendruck festgestellt worden war und er eine 3 Minuten-Strafe bekommen würde. Damit rutschte Dennis im Ziel auf Platz 2 vor und war nach einem chaotischen Rennen neuer Formel E-Weltmeister. Er dürfte froh gewesen sein, dass er so etwas am Sonntag nicht noch einmal würde durchmachen müssen.
Dennis hat diesen Titel auf jeden Fall verdient. Zwar haben Cassidy und Evans mehr Siege geholt (je vier gegenüber seinen zwei), aber die zweiten Plätze haben es zu Dennis Gunsten entschieden (sieben gegenüber drei bzw. zwei). Er hatte eine schlechte Phase von Hyderabad bis Berlin, aber auch mit etwas Pech. Ansonsten hat Dennis – bis auf den ersten Rom-Lauf, wo er Vierter wurde – jedes Mal das Podium erreicht. Er, Cassidy und Evans haben zwar allesamt vier Rennen ohne Punkte beendet – aber die anderen beiden haben es nicht so konstant wie Dennis auf das Podium geschafft.
Das ist schon eine extrem starke Bilanz, gerade in einer Serie wie der Formel E, wo es doch oft etwas ruppiger zur Sache geht. Und auch in den Peloton-Rennen, wo niemand führen wollte, hat er sich somit letztlich immer gut behaupten können. Nur zweimal startete Dennis von der Pole (Portland und Rom), öfter außerhalb der Top 5. Es war also vor allem die Rennperformance und das Gespür für die Rennsituationen, womit er überzeugte.
Lauf 2 und die Entscheidung der Teamwertung
Die Teamwertung und der Kampf um Platz 2 der Wahrer-WM wurden am Sonntag ausgetragen – auf nasser Strecke. Jedenfalls war es außerhalb der Halle nass, und zwar so nass, dass das Rennen erst nach langer Verzögerung überhaupt gestartet werden konnte. Dafür waren dann aber die Driving Standards auf nasser Strecke deutlich besser als man es sonst von Formel E-Rennen kennt. Ohne größere Zwischenfälle konnten die Runden abgespult werden. Nick Cassidy und Mitch Evans gingen von der Pole ins Rennen und setzten sich massiv vom Rest des Feldes ab: 5 Sekunden lagen am Ende zwischen diesen beiden, Jake Dennis kam mit gut 16 Sekunden Rückstand als Dritter ins Ziel.
Vorne gewann Cassidy vor Evans, weiter hinten in den Top Ten kam Buemi einen Platz vor Sam Bird ins Ziel – damit sicherte sich Envision-Jaguar den Team-Titel gegen das Jaguar-Werksteam. Und auch Platz 2 in der Fahrerwertung ging um zwei Zähler an Cassidy, der Evans nach dem Desaster vom Samstag mit dem Sieg noch wieder überholen konnte. Pascal Wehrlein, der von allen den besten Saisonauftakt hatte und auch nur ein einziges Mal in der ganzen Saison die Punkte verpasste, wurde mit deutlichem Abstand Vierter – ihm bleibt nichts übrig, als auf die nächste Saison zu hoffen.
Positive Überraschung bei den Teams war in diesem Jahr für mich Maserati. Das Team hat zwar viele Assets von Venturi übernommen, die bereits letztes Jahr stark waren – da allerdings noch als Mercedes-Kundenteam. Maserati hat dagegen selbst einen Antriebsstrang entwickelt, und der lief direkt im ersten Jahr gut, vor allem in der zweiten Saisonhälfte. Er lief sogar so gut, dass Maximilian Günther damit einen Rennsieg in Jakarta einfahren konnte, und dazu drei weitere Podien.
Auch McLaren überzeugte im Debütjahr; dieses Team hat viel vom vorherigen Meister-Team Mercedes übernommen, musste aber mit dem schwächeren Nissan-Antrieb arbeiten. In der Tabelle landete man aber nur hinter dem Werksteam, weil in den letzten Rennen Pech dazu kam und dagegen Norman Nato bei Nissan aufdrehte und ab Jakarta konstant Punkte holte.
Ausblick auf 2024
Die Saison 2024 beginnt am 13. Januar, es ist also ein knappes halbes Jahr Pause. Auf den Kalender haben wir vor einigen Wochen schon vorausgeblickt, die TBAs sind noch nicht besetzt worden. Das große neue Event wird der Tokyo ePrix sein, ein Heimrennen für Nissan, die aber seit Jahren bei der Performance hinterher hängen. Bei den Teams und Kunden-Verträgen ist bisher keine Änderung bekannt. Fix sind auch Weltmeister Dennis bei Andretti und Ex-Champion Sebastien Buemi bei Envision.
Sam Bird wird allerdings Jaguar verlassen; seine Jahre bei diesem Team waren enttäuschend gegenüber den vorangegangenen bei Virgin / DS Virgin / Envision Racing, als er mehrfach um den Titel mitkämpfen konnte. Bird gehört mit Buemi und di Grassi zu den Urgesteinen der Formel E und hätte auch einen Titel verdient, aber letztlich hat es nie gereicht. Nun könnte er wohl zu McLaren wechseln. Die haben zwar eine gute Debütsaison hingelegt, aber es müsste eine deutliche Steigerung seitens des Antriebs-Lieferanten Nissan kommen, damit Bird nochmal in den Titelkampf eingreifen könnte.
Die Gen3 hat ihre Feuertaufe mit einer spannenden Saison bestanden. Ich finde die Autos optisch immer noch nicht besonders attraktiv, aber man gewöhnt sich dran. Die Frontflügel sind deutlich empfindlicher als bei der Gen2 mit ihren Kotflügeln, das haben die Fahrer auch am Samstag in London wieder gezeigt und gemerkt. Der Fahrstill müsste daran angepasst werden, oder aber die Strecken, die in manchen Fällen ein Anlehnen beim Überholen beinahe erfordern (siehe London). Das Qualifying verfolge ich selten, aber das Format mit dem Shootout funktioniert, es bringt die besten nach vorn, bestraft aber auch Fehler direkt. Der Attack Mode hat sich gut etabliert, und den FanBoost hat wohl niemand ernsthaft vermisst. Wenn ich mir für nächstes Jahr etwas wünschen dürfte, dann das man versucht, das Peloton-Fahren einzudämmen. Ich weiß nicht wie, denn Energiesparen gehört in der FE nunmal zum Konzept, aber es war auf einigen Strecken deutlich präsenter (und für mich störender) als auf anderen. Die beiden Neuzugänge Sao Paulo und Portland sind wieder im Kalender, dort war es am heftigsten, weil beide Strecken über lange Geraden verfügten.
Ich bin jedenfalls gespannt, was 2024 bringen wird, welche Austragungsorte noch im Kalender auftauchen und ob wir neue Fahrer*innen im Feld sehen werden…
(Bilder: Formula E)