Volle Tribünen, Rekorde, aber auch erste tiefere Bruchstellen: Das Rennsportjahr 2023 wurde wie erwartet mit reichlich Geschichtsträchtigem beschert. Nach den erstaunlich zügig vergessenen Sturmtiefs der Pandemie hat die schnellste Nebensache der Welt zwar wieder die Segel gesetzt. Aber die nächsten Sandbänke drohen. Aus dem Logbuch eines Motorsportreisenden.
Nichts ging mehr voran. In einem Meer aus Menschen herrschte trotz hohem Wellengang Stillstand. Schon zwei Stunden vor dem Start der 100-Jahre-Ausgabe von Le Mans hatten sich die 325.000 Zuschauer bewegungstechnisch Schachmatt gesetzt. Jeder wollte den besten Blick auf ein Feld erhaschen, für das die Szene lange gekämpft hat – auch untereinander. Und obwohl fiese Schauer, überkomplizierte Safety-Car-Regeln und eine mehr als leidige BOP-Diskussion sich als Partycrasher übten, war das Rennen mit dem Fallen der Zielflagge bereits ein Klassiker. Erst recht, wenn man es mit den sonst eher leidenden Roten hält. Müsste man die Ambivalenz der abgelaufenen Saison mit nur einer Veranstaltung zusammenfassen, hätte die Legende aus dem Pays de la Loire Vorzugsrecht.
Das wichtigste Erbe des Rennjahres 2023 ist die Erkenntnis, dass es eigentlich nur der Anfang eines größeren Trends sein soll. Denn der Motorsport boomt 2024 weiter. Allen voran die Sportwagen-Szene kriegt sowohl bei den Prototypen als auch bei den nach oben beförderten GT3-Rennern anhaltend Zulauf. Dies- und jenseits des Atlantiks herrschen in den Orga-Büros massive Kopfschmerzen, wenn es um das Thema Nennlisten geht. Ähnlich ist es bei der Formel 1, wo gewisse Akteure sich allerdings darum bemühen, die Liste kurz und damit das eigene Konto proper zu halten. Solange Karten für überteuerte Kunstevents der Kategorien Miami oder Las Vegas noch wie Taylor-Swift-Tickets über die digitale Ladentheke gehen, kann man sich solche Späße allerdings erlauben. Trotzdem ist es entscheidend, dass die Königsklasse wieder/weiter die Faszination der Welt einfängt. Denn wenn sie hustet, hat der Rest des Sports eine Lungenentzündung.
Dominatoren und Erlösungen
Auch in dieser Saison waren es fast ausschließlich die Goliats, die den Davids doch die Grenzen aufzeigen konnten. Red Bull setzte zusammen mit Max Verstappen die wenig spannende, aber natürlich respektable Dominanz in der Formel 1 fort. Toyota präsentierte sich abseits des WEC-Herzstücks Le Mans auf der Langstrecke unschlagbar. Und unterstrich die sportlichen Ansprüche in der WRC, welche in der abgelaufenen Saison mit Craig Breen einen unbelohnten Helden verlor. Mehr Abwechslung gab es dafür in den USA – auch wenn sich erneut die Topteams in die Geschichtsbücher eintrugen. Während dem nun zweimaligen IndyCar-Champion Álex Palou vor Gericht fortwährend teure Duelle drohen, ist er auf der Strecke dank Ganassi-Material nur durch Pech wie in Indy zu stoppen. Beim Jahreshöhepunkt erlöste sich dafür mit Josef Newgarden nicht nur ein Penske-Fahrer, sondern auch ein „All-American Racer“. Sein NASCAR-Kollege Ryan Blaney knüpfte später an den Vorjahreserfolg von Joey Logano an, und Ford holte als Milkshake-Kirsche obendrauf die Titel in der Xfinity und bei den Trucks.
Etwas mehr für das nach Emotionen schlagende Rennherz findet sich beispielsweise bei den Aussie Supercars, der BTCC oder auch den japanischen Top-Serien. Brodie Kostecki – ein zur Statur passender Name – katapultierte sich und sein Team Erebus im Coca-Cola-Camaro an die Spitze. Dabei wollte ihn die milliardenschwere Teambesitzerin Betty Klimenko ursprünglich gar nicht. Nach dem Titelerfolg beichtete sie: „Es ging nicht speziell um ihn, sondern darum, dass wir damals bereits einen Rookie im Team hatten und es mir als ausreichend erschien. Mein Team-CEO Barry Ryan ist die Sache mit mir in Ruhe durchgegangen. Dann habe ich durch Bauchgefühl die Entscheidung pro Brodie getroffen. Ich bin froh, dass ich es getan habe.“ Eine ebenfalls schwerwiegende Entscheidung traf mit Shane van Gisbergen der Supercars-Triumphator der jüngeren Vergangenheit. Angesichts einer unter den Erwartungen gebliebenen neuen Auto-Generation, Polit-Zoff und der Leistung des Jahres in der Form seines Cup-Siegs in Chicago wählte er den Wechsel in die NASCAR. Die Emotionen nach seinem dritten Bathurst-Sieg sprechen jedoch für eine Rückkehr. Selbst die Ford-Fans am heuer überdurchschnittlich vollen Mount Panorama werden sich über das Comeback freuen.
Ähnlich hochdekoriert zeigt sich sein Tourenwagen-Gegenstück aus der BTCC: Ash Sutton schlug nach der 2022er-Niederlage erbarmungslos zurück und ist jetzt viermaliger Titelträger. Der jüngste Erfolg im hybridisierten Ford Focus ST belegt das breite Handwerk des englischen Racers. In Japan wurde parallel die Dominanz der Toyota-Weltprojekte auf die heimischen Kurse erweitert. Die Titel von Sho Tsuboi und Ritomo Miyata (zweitgenannter mit Doppeltitel in Super GT/Formula) mussten im Vergleich aber härter ausgefochten werden. Racingblog-Kollege Geinou/Yankee hat den Champion Miyata genauer vorgestellt (auf Englisch) und dessen von Autismus geprägte bisherige Lebensgeschichte mit einem Feingefühl beschrieben, das man bei Teilen der kommerziellen Webseiten teils erschrocken vermisste. Miyata bestreitet 2024 in Carlin-Diensten seine erste Formel-2-Saison und sammelt weiter Erfahrung im Le-Mans-Sport.
Wunderbare Lebenslügen
Nach der großen vierrädrigen Ehrenrunde, die unter anderem noch um die Namen Thomas Preining/Manthey, Jake Dennis/Andretti, Norbert Michelisz/BRC Hyundai sowie Pipo Derani und Alexander Sims/Action Express Racing erweitert gehört (und aus der man leider Meyer Shank Racing ausklammern muss), soll die Technik eine zusätzliche Hauptrolle bekommen. Bei ihr sah sich der Rennsport nämlich 2023 mit Entwicklungen konfrontiert, die so in der Härte nicht absehbar waren. Statt eines Booms erlebte allen voran der Elektro-Sport zuletzt eher den GAU: Unglückliche Feuer-Zwischenfälle, extreme Kosten und aufkommende Antriebsalternativen steckten eine Kindersicherung in die Steckdose. Auf der Webseite von auto motor und sport findet Ihr zusätzliche Gedanken von mir zum Strom-Racing. Die Kurzzusammenfassung: Reiner elektrischer Spitzensport scheitert in der nahen Zukunft an den aktuellen technischen Voraussetzungen, kleinere seriennahe Formate sollten jedoch eine Chance bekommen.
Obwohl sich mit Wasserstoff-Arbeitsgruppen in der Formel 1 und bei den Sportwagen eine durchaus hoffnungsreiche Zukunft auf den Weg gemacht hat, ist die technische Basis somit vorerst zementiert. Und die ist – wenn man ehrlich ist – gewissermaßen eine Lebenslüge. Zwar haben zum Beispiel die WEC und die IMSA Hybrid-Zusätze und nachhaltige Kraftstoffe, aber das Herz ihrer Prototypen bleiben voluminöse V6/8-Klangkörper. Mit der Neuauflage des Aston-Hypercar-Projekts steht sogar ein V12 in den Startlöchern. Schlimm? Natürlich nicht, eher sogar das Gegenteil. Aber mit Entwicklungen auf der Straße, die selbst mit dem Ausklammern von Elektro tendenziell in eine komprimiertere Richtung abbiegen, hat das wenig zu tun. In allererster Instanz hält es den Rennsport dafür am Leben. Und das ist in Zeiten vollkommen richtiger (!) Klima-Sensibilität ein hohes Gut. Dass selbige konstruktiv geleitet sein muss und nicht durch diesjährige Aktionen wie in Berlin und in Nürnberg Gesundheit und Einkommensquellen gefährdet, erklärt sich von selbst. Finde ich.
Trotzdem steckt in den grünen Stickern auch eine Gefahr für den Motorsport, was ebenfalls das Jahr 2023 unterstrich. Die Sorgen um die Stabilität des BTCC-Feldes und das elendige IndyCar-Hybrid-Drama sind die unschönsten Beispiele. Immer wieder ärgern sich Teamchefs, dass ihr Wille für Investitionen in Neuerungen durch absurde Folgeentwicklungen torpediert wird. Man nehme zum Beispiel das vom ADAC angepasste DTM-Reglement, welches grundsätzlich sportlich fruchtete. Sein neuer Bio-Kraftstoff und die Reifenvorgaben ergeben auf dem Papier reichlich Sinn, umgesetzt kommen aber plötzlich Testkilometerschlachten zutage. In der WEC führte das Reifenwärmerverbot derweil zu horrenden Reparaturkosten nach skurrilen Unfällen. Nicht nur einmal wünschte man sich, dass der Motorsport etwas selbstbewusster mit seiner DNA umgeht und sich nicht in Erklärungsnöte bringt, die gar nicht existieren.
Support your local track!
Im Anschluss an die lange Reise über die Ozeane des Spitzensports und die Tiefseegräben des technologischen Wandels bleibt uns kurz vor dem Einlaufen in den Zielhafen noch ein Thema, das naturgemäß bei Best-of-Artikeln eher hintenüberfällt. Auch in diesem Jahr hatte ich wieder die Chance, einige Breitensport-Veranstaltungen zu besuchen – darunter Dirt-Rennen im Mittleren Westen und Autocross in Deutschland. Das Fazit der Gespräche dort ist überall und in jeder Sprache gleich: Unterstützt den lokalen Sport, damit er eine Zukunft hat! Denn während die Leuchttürme der Formel 1, von Le Mans und Co. wirtschaftliche Sturmfluten überstehen können, sieht es auf den immer kleineren Inseln des normalen Motorsports ganz anders aus. Kartstrecken, Bergrennen, Slalom-Events, Rallyes, RX usw. freuen sich über jeden Besucher und jede verkaufte Pommestüte. In diesem Sinne: Wir sehen uns 2024 am Streckenrand.
Ich wünsche Euch einen guten Rutsch in das neue Jahr, stets beste Gesundheit, Faszination für Neues und dieselbe Motorsport-Leidenschaft. Euch immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel!
Descanse em paz, Gil de Ferran – und alle anderen verstorbenen Racer.
Bilderquelle / Copyright: ADAC Motorsport, IndyCar, Porsche, WEC