Wie jedes Jahr geht vor dem ersten Rennen mal wieder das große Rätselraten los. Wer ist vorne, vor allem im Mittelfeld?
Das die F1 in Melbourne in die Saison starten kann, ist schon mal die erste Sensation. Angesichts der Krise um das Coronavirus war das alles andere als sicher. Auch das Rennen in Bahrain wird stattfinden, allerdings ohne Publikum (was jetzt keinen allzu großen Unterschied in Bahrain macht). Aber ob das Rennen in Vietnam stattfinden wird, ist noch völlig unklar. Das gilt auch für die Rennen im Mai. Hier hängt dann alles davon ab, ob es den Behörden gelingt, die Verbreitung des Virus in den nächsten sechs Wochen zu kontrollieren und die Neuinfektionen pro Tag auf ein überschaubares Maß zu drücken. Wenn es gut läuft, werden die Rennen in Zandvoort, Barcelona und Monaco stattfinden. Wenn es schlechter läuft, wird man in den Niederlanden und in Spanien die Rennen ohne Publikum fahren. Monaco ist erst Ende Mai, hier stehen die Chancen recht gut, dass es über die Bühne geht. Im schlimmsten Fall würden alle Rennen zumindest bis Anfang Juni ausfallen. Aber die Chancen dafür sind, zumindest im Moment, sehr gering.
Nur sechs statt wie bisher acht Tagen standen den F1-Teams in diesem Jahr zum Testen zur Verfügung. Das bedeutete, dass man das normale Programm deutlich komprimieren musste und jedes Problem gleich doppelt schlecht war. Zwar war jedes Team mal von Kleinigkeiten betroffen, aber insgesamt erreicht man eine sehr gute Anzahl an Runden. Auffallend war, dass das durch die Bank allen gelang. Es gab kein Team, dass aufgrund technischer Probleme besonders aufgefallen wäre. Das sind für alle schon mal gute Nachrichten.
Die Zeiten kann man mehr oder weniger vergessen, da niemand seine Karten auf den Tisch gelegt hat. Keiner ging in Spanien mit leerem Tank, voll aufgedrehtem Motor und C5 Pirelli auf die Strecke. Aber die Long Runs der Teams, vor allem über die letzten drei Tage und der Gesamteindruck der Test, ergeben doch ein ungefähres Bild. Vor allem an der Spitze. Im Mittelfeld sieht es weiter eng aus.
Generell gibt es eine Vierteilung im Feld. Vorne die bekannten Top 3 plus Racing Point. Dahinter McLaren, Renault, die wiederum etwas Abstand zu Alpha Tauri und Alfa Romeo haben. Dahinter liegen dann Williams und Haas.
Hier meine Einschätzung.
1. Mercedes
Es gibt kaum einen Zweifel daran, dass Mercedes auch in diesem Jahr wieder als Favorit in die Saison startet. Im Verlauf der Tests wurde auch mehr und mehr klar, dass der W11 mehr ist, als nur eine leichte Evolution des W10 des Vorjahres. Mercedes hat vor allem die gesamte Aufhängung vorne und hinten komplett neu gestaltet. So hat man im Bereich des Hecks die Aufhängung so gestaltet, dass sie ein Stück höher und weiter hinten liegt. Der aerodynamische Vorteil liegt darin, dass man den Heckflügel und andere Bereiche der Aerodynamik besser anströmen kann. Nachteil: Die Belastung auf die Aufhängungselemente steigt erheblich. In Spanien, bei eher kühleren Streckentemperaturen, schien alles gut zu funktionieren, auch der Reifenverschleiß sah gut aus.
Ein weiterer Vorteil ist das schon beschriebene DAS-System. Ob es viel auf einer Runde bringt, darüber sind sich die Experten nicht einig. Sicher ist aber, dass Mercedes einen erheblichen Vorteil hat, wenn es darum geht die Vorderreifen schnell auf Temperatur zu bekommen. Das wird vor allem in der Quali und bei einem Restart interessant zu sehen sein.
Ansonsten sahen die Mercedes sehr gut aus. Das Auto liegt sehr gut, der Reifenverschleiß scheint im normalen Bereich zu sein und das Auto ist schnell. Allerdings hatte Mercedes sowohl im eigenen Team als auch bei Williams Probleme mit dem Motor. Am letzten Tag fuhr man laut eigener Aussage mit gedrosselter Leistung.
Aber insgesamt ist Mercedes ganz klar an der Spitze.
2. Red Bull
Wie immer blieb Red Bull während der Tests unauffällig. Keine Bestzeiten, keine großen Auffälligkeiten. Am vorletzten Testtag überraschte Red Bull mit einem neuen Aero-Paket, das vor allem die Berge Boards umfasste. Der Wagen ist schnell, die Long Runs waren stabil und lagen sehr nahe bei den Mercedes. Auch bei Honda gab es keine Probleme, zumindest nicht auf der Strecke. Aber der Motor zeigte sich ja im letzten Jahr eher zuverlässig.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Red Bull über den Winter einen großen Schritt gemacht hat. Der Aufwärtstrend war schon in der letzten Saisonhälfte zu bemerken und das Red Bull, je nach Strecke, vor Ferrari lag, auch. Die Regelmäßigkeit, mit der Red Bull seine Rundenzeiten hinlegte, war schon bemerkenswert. Das Auto macht also einen schnellen und zuverlässigen Eindruck.
Allerdings gab es auch einige Ausrutscher, vor allem von Verstappen. Mir machte das Heck des Red Bull einen teilweise leichten Eindruck, vor allem in den mittelschnellen Ecken. Das mag daran liegen, dass das Chassis in diesem Bereich zu wenig Abtrieb generiert, mag aber auch daran liegen, dass Verstappen einfach zu sehr gepusht hat. Aber auffällig war schon, dass es ihn immer vor der letzten Schikane erwischte.
Insgesamt sehe ich Red Bull relativ sicher auf dem zweiten Platz in der WM und wie man weiß ist das Team in der Lage, sich in der Saison deutlich zu steigern.
3. Ferrari
Großes Rätselraten. Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht, wo die Italiener stehen. Matteo Binotto sagte am letzten Tag, dass man den Motor nicht Leistung genommen hätte. Der neue Motor sei sogar eher ein Problem, weil ihm offensichtlich Leistung fehlen würde. Ebenso sei man unzufrieden mit Abtrieb und dem Setup. Das hängt dann natürlich alles miteinander zusammen. Ferrari hat dem SF1000 mehr Abtrieb über den Winter gegeben, zumindest hat man es versucht. Es gab aber schon vor einige Wochen das Gerücht, dass die Werte aus dem Windkanal nicht mit dem CFD-Modell übereinstimmen würde. Weitere Gerüchte besagen, dass man dies in Barcelona bestätigt hat. Sollte das stimmen, dann wird Ferrari in den ersten drei Rennen vermutlich nicht um den Sieg fahren können.
Dagegen sprechen allerdings die sehr guten Zeiten auf den Long Runs, die sehr nah an jenen von Mercedes lagen. Mercedes selber gab auf die Aussagen von Ferrari relativ wenig. Man geht dort weiter davon aus, dass Ferrari und Red Bull sehr knapp dran sind. Aber was stimmt denn nun? Hat Ferrari, nach den schlechten Erfahrungen im letzten Jahr, einfach den Ball sehr flach gehalten? Oder haben sie wirklich Probleme?
Es ist wirklich schwer zu sagen. Auffallend war allerdings, dass Ferrari am Ende der Gerade rund 8 bis 10 km/h an Topspeed fehlten und man vor allem im letzten Sektor erneut schlecht aussah. Australien und vor allem Bahrain werden es zeigen. Sollte Ferrari wirklich so schlecht sein, wird man die Absage des GP von China begrüßen. Denn jetzt hat man vier Wochen Zeit den Wagen schneller zu machen.
4. Racing Point
Und zwar nur sehr knapp hinter Ferrari. Das mag jetzt eine kleine Überraschung sein, denn im letzten Jahr lag Racing Point noch rund 1.2 Sekunden hinter den Italiener. Solche großen Sprünge sind in der F1 eher ungewöhnlich. Aber so wie es zumindest für die ersten paar Rennen aussieht, könnte Racing Point das Kunststück gelungen sein. Die ziemlich exakte Kopie des Mercedes W10 aus dem letzten Jahr, den RP mit weiteren Eigenentwicklungen versehen hat, war die Überraschung in Barcelona. Der RP20 ist schnell und er ist es vor allem auf den Long Runs. Wenn meine Prognosen stimmen, dann liegt man bei den Long Runs nicht mal 4 Zehntel hinter den Mercedes.
Der Ärger über die Kopie von Racing Point ist vor allem bei den anderen Mittelfeldteams groß. Aber vorzuwerfen hat sich das Team nichts. Man hat sich das Konzept des W10 angeschaut, man hat es offenbar verstanden und weiter entwickelt. Andere Teams haben das in der Vergangenheit auch gemacht. In den 70ern kopierten alle den Lotus 78, in den 80ern den MP4/4, in den 90ern kopierte man die hohe Nase, die Tyrell eingeführt hatte. Die Beispiele ließen sich fortführen.
Wie gut der RP20 dann wirklich ist, wird man in Australien sehen. Aber angesichts der beeindruckenden Rundenzeiten und der Probleme bei Ferrari könnte Racing Point tatsächlich eine Überraschung gelingen.
5/6. McLaren und Renault
Beide sind meiner Meinung nach ziemlich gleich auf. In der ersten Testwoche sah McLaren sehr gut aus. Man war schnell, auch auf einer Runde. Renault hat dagegen in der ersten Woche mit Problemen zu kämpfen gehabt, und die Gesichter in der Box sahen sehr unzufrieden aus. In der zweiten Woche änderte sich das Bild allerdings. Während sich McLaren Team Chef Andreas Seidl sehr zufrieden zeigte, meinte Lando Norris, dass der Performance Sprung vom Vorjahreswagen nicht so groß sei.
Aber das kann natürlich auch mal wieder der übliche PR-Nebel sein. Denn Carlos Sainz wiederum gab sich sehr zuversichtlich. Ist McLaren vielleicht sogar vor Ferrari? Das glaube ich nicht, da der Renault-Motor weiter Rätsel aufgibt. Die Franzosen behaupten, dass man mindestens auf dem Level von Ferrari und Mercedes ist. Was nicht wenige bezweifeln, zum Mal Renault die Saison nicht mit einem Update startet. Der neue Motor kommt erst im Laufe der Saison.
Der Renault wiederum kämpfte vom ersten Tag mit einem sichtbaren Untersteuern am Kurveneingang. Manche Fahrer mögen das, andere wieder nicht. Das Untersteuern kostet vor allem in der Quali etwas Zeit, weil man später aufs Gas gehen kann. Im Verlauf der letzten Testwoche schien Renault das Problem besser in den Griff bekommen zu haben. Das sehr eigene Aero-Konzept an der Front kann für die Franzosen ein Vorteil sein, wenn es denn gute Entwicklungsmöglichkeiten zulässt. Aber Renault steht mit der abgerundeten Nase alleine im Feld. Es ist immer etwas ungewöhnlich, wenn ein Team einen Sonderweg geht, vor allem, wenn sich die Regeln über den Winter nicht verändert haben.
Insgesamt halte ich McLaren im Moment aber für besser als die Renault und vor allem, was die Entwicklung über das gesamte Jahr angeht, scheint McLaren immer noch die besseren Karten zu haben.
7. Alpha Tauri
Das Ex-Toro Rosso Team hat sich beim neuen Design stark am letztjährigen Red Bull orientiert. Das gilt vor allem für die gesamte Front. Neu und sehr auffällig sind die leicht nach unten hängenden Seitenkästen. Eine Lösung, die in der Art einzigartig ist. Im letzten Jahr lief es für das Team richtig gut, denn man erreichte zwei Podien. Insgesamt machte der Wagen einen guten Eindruck. Diesen Schwung würde man natürlich gerne in das neue Jahr mitnehmen.
Dass man eher nicht mit McLaren und Renault mithalten kann, ist klar. Dafür fehlt dem Team einfach das Geld und damit die Ressourcen für die Weiterentwicklung. Dazu kommt, dass man auch die Entwicklung des 2021er Wagen stemmen muss.
Daher wäre P7 am Ende des Jahres schon das Maximum, was man erreichen kann. Ein kleines Fragezeichen bleibt hier aber auch, denn wenn der Honda-Motor so gut ist, wie manche denken, dann ist Alpha Tauri für die ein oder andere Überraschung gut.
8. Alfa Romeo
Ehrlich gesagt könnte Alfa auch vor dem anderen Alpha liegen. Die Zeiten lagen hier eng beieinander. Dazu kommt, dass Räikkönen in der zweiten Woche eine bemerkenswerte schnelle Runde hingelegt hat. Aber die Long Runs sahen dagegen nicht so schnell aus. Während der Tests verstärkte sich der Eindruck, dass Alfa noch ein paar Hausaufgaben zu machen hat, weil das Paket noch nicht komplett stimmt.
Sicher ist, dass Alfa einen Schritt nach vorne gemacht hat. Dafür spricht die sehr schnelle Runde. Offenbar hat man dem Chassis die Quali-Schwäche etwas ausgetrieben. Aber die eigentlichen Probleme lagen im letzten Jahr vor allem bei der Konstanz. Es gab Strecken, auf denen der Alfa gut ging, auf manchen lief es überhaupt nicht. Es ist also die Frage, ob es Alfa gelungen ist, dem Chassis mehr Konstanz beizubringen ohne an Speed zu verlieren.
Aufgrund der engen Zusammenarbeit zwischen Alpha Tauri und Red Bull sehe ich daher die Italiener zumindest zum Start der Saison vorne.
9. Williams
Ja, das ist etwas optimistisch getippt. Dass Williams über den Winter die 1.4 Sekunden Rückstand aufgeholt hat, ist alleine eine gute Nachricht. Aber vor Haas? Mein Eindruck der Williams über die Testwoche war gut. Russel und Latifi legten konstant gute Zeiten hin, die aber natürlich weit von den Top 7 entfernt waren. Der Abstand zu Mercedes dürfte sich insgesamt etwas verkleinert haben, ist aber immer noch riesig. Die Frage ist aber, ob Williams so viel Performance gefunden hat, dass man um den Einzug in Q2 kämpfen kann.
Vermutlich werde ich in Australien dann mit der Wahrheit konfrontiert, aber mein Eindruck ist schon, dass Williams das schaffen kann. Abgesehen von den Problemen mit dem Mercedes-Motor, lief der Test ruhig und Claire Williams zeigte sich mehr als zufrieden.
Der FW43 ist sicher kein Wagen, der die letzten Aero-Kniffe hat. Williams hat sich darauf verlegt ein Auto zu bauen, das zuverlässig und einigermaßen schnell ist. Daher auch das Design, das eher an das letzte Jahr erinnert. Aber das muss kein Nachteil sein, wenn man die Weiterentwicklung denkt.
10. HaasF1
Letzter? Nun ja, ich gehe davon aus, dass das Rennen um die rote Laterne in der Formel Eins sehr wechselhaft werden wird. Williams, Haas, vielleicht sogar Alfa? Sicher ist, dass Haas bei den Tests nicht sonderlich gut aussah. Die Probleme aus dem letzten Jahr, als man hinten zu wenig Abtrieb hatte, hat man wohl behoben. Aber ein Schritt nach vorne war in Barcelona nicht zu erkennen.
Dies gesagt: Wenn alle Ferrari-Teams in Barcelona mit gedrosselter Leistung unterwegs waren um die Konkurrenz einzunebeln, dann kommt von Alfa und Hass noch einiges, was die Rangfolge verändert. Wenn Ferrari aber nicht gelogen hat und man mit voller Leistung unterwegs war, dann sieht es auch für Haas eher nicht so gut aus.
Aber die Amerikaner sind tatsächlich schwer einzuschätzen. Kann sein, dass sie bluffen und wirklich nur Aero- und Setup Tests in Barcelona gefahren haben. Kann aber auch sein, dass es keine so gute Idee war, den Wagen aus dem letzten Jahr mehr oder weniger ins neue Jahr zu schleppen.
Bilder: Daimler AG, Ferrari, McLaren, Renault, Alfa Romeo, Williams, HaasF1